Ermordeter US-Bürgerrechtler:Der ewige Traum des Martin Luther King

40. Todestag Martin Luther King

Martin Luther King auf den Stufen des Lincoln Memorial in Washington am 28. August 1963.

(Foto: dpa)

Vor 50 Jahren wurde der Anführer der schwarzen Bürgerrechtsbewegung von einem Rassisten erschossen. Über einen konfrontativen Familienvater, seine erfüllten Träume und lebendigen Rassismus.

Von Hubert Wetzel, Washington

Ein Gespräch in Selma, Alabama, am Ufer des Flusses: Ein alter Handwerker klettert aus seinem Laster, die Hände voller Farbkleckse. Er hat hier in einem Haus zu tun, aber vorher will er ein Schwätzchen halten.

Er zeigt auf die Brücke, die sich ein Stück flussabwärts über den Alabama River spannt, ein eleganter Bogen aus Stahlträgern, und sagt: "Ich kann mich noch erinnern, als die Schwarzen damals da drübermarschiert sind. Ich war etwa elf. Es gab ziemliche Schlägereien. Dieser Bursche war damals auch dabei." Dann fügt er hinzu: "Viel gebracht hat es ihnen ja nicht. Heute sind die meisten Schwarzen arbeitslos und leben von Sozialhilfe."

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Es gab Zeiten, da war es noch viel schlimmer. Als der Handwerker ein kleiner Junge war zum Beispiel, in den Fünfziger- und Sechzigerjahren. Amerikas Schwarze waren damals zwar seit einem Jahrhundert keine Sklaven mehr, aber in Bundesstaaten wie Alabama, im "tiefen Süden", waren sie Bürger zweiter Klasse - arm, rechtlos und diskriminiert. Der Rassismus gehörte dort zum Alltag, er war gesellschaftlich akzeptiert und staatlich vorgeschrieben.

Schon zu Lebzeiten eine historische Figur von Weltrang

Das öffentliche Leben war segregiert, bis 1964 galt in etlichen Bundesstaaten eine gesetzlich verordnete Rassentrennung. Und kaum ein Weißer in Alabama fand in den Sechzigern etwas dabei, einen Schwarzen einen "Nigger" zu nennen. Das würde dem Handwerker in Selma heute nicht mehr einfallen. Und dass dies so ist, hat auch mit der Brücke und ganz wesentlich mit "diesem Burschen" zu tun.

Die Brücke - das ist die Edmund Pettus Bridge, wo im März 1965 weiße Polizisten und Rassisten auf schwarze Bürgerrechtsdemonstranten einprügelten. Und der Bursche, der damals auch dabei war - das war Martin Luther King Jr.

Als King im Frühjahr 1965 die schwarzen Demonstranten über die Edmund Pettus Bridge führte und von dort weiter über den Highway 80 nach Montgomery, die Hauptstadt von Alabama, war er 36 Jahre alt, ein junger Reverend und Familienvater. Zugleich war Martin Luther King damals jedoch schon eine historische Figur, ein politischer Akteur von Weltrang: der Mann, der Amerikas Schwarzen die Freiheit gebracht hatte.

Angefangen hatte Kings Kampf zehn Jahre zuvor. Nachdem die schwarze Sekretärin Rosa Parks im Dezember 1955 in Montgomery verhaftet worden war, weil sie sich geweigert hatte, ihren Sitzplatz in einem Bus für einen Weißen zu räumen, organisierte King einen Boykott der städtischen Busbetriebe.

Das schadete diesen wirtschaftlich enorm, vor allem aber war es eine offene und massive Provokation gegen die von den Weißen errichtete - und erbittert verteidigte - alte Ordnung.

In den Jahren danach führte King in verschiedenen Städten und Bundesstaaten im amerikanischen Süden Protestaktionen gegen die Diskriminierung der Schwarzen an: Demonstrationen, Blockaden, Aufmärsche. Der baptistische Reverend aus Georgia wurde dadurch zum wichtigsten Anführer der schwarzen Bürgerrechtsbewegung.

Immer bewusst konfrontativ

King glaubte an Gerechtigkeit und Freiheit als etwas Absolutes und Unteilbares. Entweder es gab sie - oder nicht. In der staatlich sanktionierten Diskriminierung der Schwarzen sah er einen nicht hinnehmbaren Verstoß gegen die Gerechtigkeit und einen unauflöslichen Widerspruch zu den freiheitlichen Glaubenssätzen, auf denen die Vereinigten Staaten gegründet worden waren.

Er glaubte allerdings nicht daran, dass Gerechtigkeit und Freiheit sich von alleine einstellen. Ungerechtigkeit und Unfreiheit, davon war King zutiefst überzeugt, lassen sich nur durch Widerstand bekämpfen und überwinden.

Kings Proteste waren deswegen immer bewusst konfrontativ. Er brach die Gesetze, die er als ungerecht für die Schwarzen empfand. Er marschierte dort, wo er nicht marschieren durfte, er rief zu Versammlungen auf, wo es verboten war. Er wurde dafür verhaftet, auf sein Haus wurden Anschläge verübt. Um Gerechtigkeit zu erzwingen, nahm King diese Risiken in Kauf.

Mehr noch: Er kalkulierte, so wie jeder gute Guerillakrieger, der gegen eine organisierte Übermacht kämpft, die Überreaktion seiner Gegner ein. In Birmingham schickte er Kinder auf die Straße, die ihre Bürgerrechte einforderten - der Polizeichef hetzte geifernde Schäferhunde auf sie.

Die maßlose Gewalt der Polizei gegen wehrlose Demonstranten, die rassistischen Attacken auf Schwarze, die Morde an Bürgerrechtlern - das waren furchtbare Momente in der amerikanischen Geschichte. Aber sie halfen Martin Luther King am Ende, den wichtigsten Kampf zu gewinnen - den um die öffentliche Meinung im Land und um die Seele Amerikas.

Trotz der Gewalt, die gegen ihn und seine Anhänger ausgeübt wurde, glaubte King selbst bedingungslos an den Frieden. Die Rassisten warfen Bomben, sie lynchten Menschen und zündeten schwarze Kirchen an, die Keimzellen des Widerstands. Doch auf die Gewalt der Gegenseite antwortete King nie mit Gegengewalt. Sein Widerstand blieb strikt gewaltlos.

Es gibt heute eine breite schwarze Mittelschicht in den USA - auch das ist ein Verdienst von MLK

Wie weit man damit kommen kann, wie hilflos nach einer gewissen Zeit die vermeintlich Mächtigen aussehen, wenn sie auf friedliche Proteste mit Kugeln, Stockhieben und Tränengas antworten, hatte zuvor in Indien bereits Mahatma Gandhi vorgemacht. Und auch King erreichte mit den Lehren vom friedlichen Widerstand und zivilen Ungehorsam das scheinbar Unmögliche: dass die Schwarzen in den USA endlich als Amerikaner anerkannt wurden, als vollwertige, gleichberechtigte Bürger. 1964 bekam King dafür als bis dahin jüngster Preisträger den Friedensnobelpreis verliehen.

Vor allem aber glaubte er an das Wort.

Schon als Schüler war King, der 1929 in Atlanta geboren und dort aufgewachsen war, ein begabter Redner gewesen. Als Pastor und Prediger hatte er sein Talent weiterentwickelt. Auch heute noch sollte man sich Reden von King lieber anhören, als sie nur zu lesen. Die Betonungen, der Rhythmus, die Wiederholungen, die alle auf einen zentralen Gedanken hinführen, sind außergewöhnlich und faszinierend.

Am 28. August 1963 kam all das zusammen: Kings Organisationstalent, sein Wille, die Obrigkeit durch große Protestaktionen herauszufordern, das aber friedlich zu tun, und sein Können als Redner.

An jenem Tag stand King auf den Stufen des Lincoln Memorials in Washington, in der dampfenden Sommerhitze des amerikanischen Südens, vor ihm füllten Hunderttausende Menschen die National Mall, den großen Parkstreifen im Herzen der US-Hauptstadt: "Ich habe einen Traum, dass sich eines Tages diese Nation erheben und die wahre Bedeutung ihres Bekenntnisses ausleben wird: Wir halten diese Wahrheit für selbstverständlich, dass alle Menschen gleich erschaffen sind", rief King. "Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilt. Ich habe heute einen Traum!"

I have a dream - einer der berühmtesten Sätze der Weltgeschichte. Kurz darauf konnte die Bürgerrechtsbewegung zwei ihrer wichtigsten Siege feiern. 1964 verabschiedete der Kongress den Civil Rights Act, der den Schwarzen in den USA die vollen Bürgerrechte zugestand und die Rassentrennung für illegal erklärte.

1965 folgte der Voting Rights Act, der sicherstellen sollte, dass Minderheiten bei Wahlen nicht durch unfaire Regeln benachteiligt werden. Als Barack Obama im November 2008 zum ersten schwarzen Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde, waren es auch diese beiden von Martin Luther King erkämpften Gesetze, die garantierten, dass die Stimmen der afroamerikanischen Wähler gehört und gezählt wurden.

Aber es wäre natürlich naiv zu glauben, dass sich Rassismus und Vorurteile durch ein oder zwei Gesetze aus der Welt schaffen ließen. Amerika ist längst noch nicht so weit, dass Menschen nur nach ihrem Charakter beurteilt werden anstatt nach ihrer Hautfarbe, wie King es sich einst erträumt hat. Den Schwarzen in Amerika geht es heute zwar sehr viel besser als in den Fünfziger- und Sechzigerjahren, nicht nur rechtlich, sondern auch wirtschaftlich. Darauf hat Barack Obama immer wieder hingewiesen.

Es gibt heute eine breite schwarze Mittelschicht. Auch das ist ein Verdienst von Martin Luther King, der wusste, dass politische Freiheit ohne materielle Sicherheit wenig wert ist. Seine Protestaktionen zielten daher immer auch darauf, die Diskriminierung der Schwarzen im Wirtschaftsleben zu beenden. Es war kein Zufall, dass sein "Marsch auf Washington" im August 1963 als Marsch "für Freiheit und Arbeitsplätze" angekündigt wurde.

Aber von echter Gleichberechtigung der Afroamerikaner kann keine Rede sein. Amerikas Schwarze sind im Durchschnitt immer noch ärmer als die Weißen, sie sind schlechter ausgebildet und leben ungesünder. Sie werden härter bestraft als Weiße und leiden mehr unter Kriminalität. Und sie landen öfter im Leichenschauhaus.

Hundreds Of Thousands Attend March For Our Lives In Washington DC

Die Vision der Enkelin: Am 24. März 2018 steht Yolanda Renee King auf der Bühne in Washington und protestiert beim „March for Our Lives“ gegen die Waffengewalt.

(Foto: Chip Somodevilla/AFP)

Die vielen brutalen Übergriffe von weißen Polizisten auf offensichtlich unschuldige Schwarze haben in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass sich unter dem Schlagwort "Black Lives Matter" eine zweite Bürgerrechtsbewegung formiert hat.

Die Konservativen in den USA haben darauf ähnlich verbissen und aggressiv reagiert wie einst weiße Politiker im Süden auf Kings Bewegung. Manche rechte Kommentatoren beschimpften die Black-Lives-Matter-Aktivisten als "einheimische Terroristen", die zum Mord an Polizisten aufriefen. Und tatsächlich gibt es im Black-Lives-Matter-Lager Leute, die fordern, dass sich Amerikas Schwarze bewaffnen und wehren sollen; und es gab Rachemorde von Schwarzen an weißen Polizisten.

Das würde King wohl strikt ablehnen, so wie er zu seiner Zeit die Militanz des Schwarzenführers Malcom X abgelehnt hat. Aber dass King heute, wäre er noch am Leben, mit den friedlichen Black-Lives-Matter-Aktivisten auf die Straße gehen und demonstrieren würde, ist unzweifelhaft.

Amerikas schwarze Gemeinde hat sich vom Mord an King nie wirklich erholt

Vor 50 Jahren, am 4. April 1968, wurde Martin Luther King auf dem Balkon eines Motels in Memphis von dem weißen Rassisten James Earl Ray erschossen. Amerikas schwarze Gemeinde hat sich in politischer Hinsicht von diesem Mord nie wirklich erholt, sie hatte seither keinen Anführer mehr, der über die gleiche moralische Integrität, das rhetorische Talent und die politische Wucht verfügt hätte wie Martin Luther King.

Barack Obama hätte vielleicht das Zeug dafür. Aber er ist als ehemaliger Präsident zu umstritten. Zudem wollte er stets zwar der erste schwarze Präsident Amerikas sein, aber nie der Präsident der Schwarzen in Amerika.

Seit 2011 steht in Washington, nicht weit vom Lincoln Memorial entfernt, ein Denkmal, das den getöteten Freiheitshelden ehrt. Und ausgerechnet die irische Band U2 hat in einem ihrer Lieder in einem einzigen Satz zusammengefasst, was Martin Luther King hinterlassen hat: "Endlich frei / sie haben dir dein Leben genommen / deinen Stolz konnten sie dir nicht nehmen".

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