USA:Das Leben in drei Wörtern

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Während einer Protestaktion vor dem Haus des Bürgermeisters von Los Angeles fordert Patrisse Khan-Cullors die Entlassung des Polizeichefs (im Jahr 2015). (Foto: Mark Ralston/AFP)

Ihr Hashtag "Black Lives Matter" wurde weltberühmt. Nun hat Patrisse Khan-Cullors ein Buch über ihren Kampf gegen den alltäglichen Rassismus geschrieben, über den in den USA eines Donald Trump kaum noch geredet wird.

Von Sacha Batthyany, Los Angeles

Patrisse Khan-Cullors steht im Hinterhof des Wohnblocks, in dem sie aufgewachsen ist, in Van Nuys, einem dieser gesichtslosen Vororte von Los Angeles. Cullors, 33, Mitbegründerin der Bürgerrechtsbewegung "Black Lives Matter", war nicht mehr hier, seit man ihre Familie Ende der Neunzigerjahre rausschmiss, weil der Besitzer weiße Mieter bevorzugte. In der Mitte des Hofs befindet sich ein kleiner Pool, umgeben von einem Gitter, an dem sie sich nun festhält, so wie sie es schon in ihrer Kindheit getan hatte, die im Alter von zwölf Jahren endete, als sie lernte, was es bedeutet, schwarz zu sein in Amerika.

Sie spricht über die Frauen, deren Söhne und Männer Opfer von Polizeigewalt wurden

Durch die Eisenstäbe hindurch hatte sie als Kind gesehen, wie die Polizisten vorbeifuhren und sich ihre Brüder vorknöpften und deren Freunde, 14-jährige Teenager, die einfach nur vor dem Haus saßen und dummes Zeug redeten. Sie wurden von den Cops täglich an die Wand gedrückt, gedemütigt, "und allzu oft nahmen sie einen von ihnen grundlos mit". Meist erwischte es ihren geliebten Bruder Monte.

Es gibt Biografien, in denen sich die Geschichte eines ganzen Landes widerspiegelt. Die Gewalt, die Machtgefüge, die alltägliche Unterdrückung, all das schwingt immer mit, wenn Cullors über ihre Schulzeit spricht, über ihren abwesenden Vater, die Mutter, die frühmorgens aus dem Haus ging und erst spätabends hundemüde von der Arbeit wiederkam. Und doch erzählt Cullors von einem fremden Amerika, von dem selten die Rede ist, weil sonst Männer das Narrativ vorgeben, weil sonst mittelalte Schriftsteller und Journalisten und Historiker bestimmen, wie wir die Dinge zu sehen haben. Aber Cullors' Blick ist ein anderer - ihr Amerika ist ein Land der vergessenen Frauen.

Vor etwas mehr als zwei Jahren erschien ein schmales Buch des Journalisten Ta-Nehisi Coates über die rassistische Gewalt an Afroamerikanern seit der Sklaverei. Die Veröffentlichung fiel in eine Zeit, in der die Medien täglich über neue Fälle von Polizeigewalt an Schwarzen berichteten, über Jugendliche, die erschossen wurden, weil man sie für Einbrecher hielt, nur weil sie Kapuzenpullis trugen: Tamir Rice, Trayvon Martin, Michael Brown, Eric Garner und so viele mehr. Es wurde über die Gewalt gesprochen, der junge afroamerikanische Männer täglich begegnen, und die überfüllten Gefängnisse, doch über die Mütter und Witwen und vaterlosen Töchter, die sich fortan allein durchs Leben schlagen müssen, sprach kaum jemand. Was ist mit ihrer Trauer? Was mit der Scham und der Wut über ein verpatztes Leben?

Das ist das Amerika, von dem Patrisse Khan-Cullors erzählt, ein Land, in dem zu viele Afroamerikanerinnen schweigen und trauern und hinter Fritteusen von Kentucky Fried Chicken verschwinden - wie beispielsweise Cullors' Mutter Cherice -, weil sie irgendwann keine mehr Kraft haben. Cullors hatte Kraft und sie ging ihren Weg, der in Van Nuys begann und zur Gründung der Bürgerrechtsbewegung Black Lives Matter führte, die unter Barack Obama erst gefeiert und nun unter Präsident Donald Trump als Anti-Polizei-Bewegung und Terrororganisation abgestempelt wurde.

Über diesen Weg schrieb die Aktivistin Cullors ein sehr persönliches Buch (Patrisse Khan-Cullors, "#Black Lives Matter. Eine Geschichte vom Überleben", Kiepenheuer & Witsch), das den Leser wütend zurücklässt. Wütend auf dieses Land, weil so deutlich wird, wie ungleich die Bedingungen in den USA sind, wie sehr die Unterdrückung der Schwarzen seit Jahrzehnten System hat - und wie sich all dies auf Frauen und Kinder auswirkt. Und doch ist es auch ein ungeheuer berührendes Buch, weil Cullors über die Liebe schreibt und die Kraft der Gemeinschaft.

Am Tag, als Cullors herausfand, wie die Polizei ihren Bruder Monte im Gefängnis behandelte, "beschloss sie, das gottverdammte System zu verändern". Der sogenannte "War on Drugs", der unter Richard Nixon begann und den US-Präsident Ronald Reagan reaktivierte, war damals auf dem Höhepunkt. Bill Clinton führte Mitte der Neunzigerjahre ein Gesetz ein, wonach Wiederholungstäter auch für kleine Vergehen für Jahre ins Gefängnis mussten, wofür er sich heute entschuldigt, weil es vor allem schwarze Männer traf. Männer wie Cullors Bruder Monte.

Die Kriminalität ging in vielen Städten zwar zurück, dennoch halten die meisten Experten den Krieg gegen die Drogen für gescheitert und vor allem für rassistisch motiviert. "Es war nichts anderes als eine ethnische Säuberung", sagt Cullors. Familien wurden aus ihren alten Quartieren vertrieben und an die Ränder gedrängt. "Den Vätern und Söhnen raubte man die Zukunft, den Töchtern und Müttern die Hoffnung. Wir sind eine verlorene Generation."

2011 las Cullors einen Bericht der Bürgerrechtsbewegung ACLU über die Foltermethoden eines Sheriffs in Los Angeles, der sie erschütterte. Auf siebzig Seiten berichteten hier Zeugen von Elektroschocks und Knochenbrüchen. "Man rammte eine Taschenlampe in das Rektum eines Häftlings. Ein Mann wurde nackt ausgezogen, während man die Mithäftlinge in der Zelle aufforderte, ihn zu vergewaltigen", heißt es in dem Bericht. "Der Sheriff zwang Häftlinge, aus dem Klo zu trinken."

Dieser Sheriff, Lee Baca, wurde im Mai 2017 zu drei Jahren Gefängnis verurteilt und zu "einer Buße von 7500 Dollar", sagt Cullors. Es ist nicht nur die Gewalt an Häftlingen, die Cullors verzweifeln lässt, ebenso die lächerliche Strafe, die dieser Sheriff erhielt, "während andere für Jahrzehnte verschwinden, nur weil sie zu schnell gefahren sind - und weil sie die falsche Hautfarbe haben".

2013 besuchte Patrisse Khan-Cullors gemeinsam mit zwei Freundinnen einen Häftling in einem Gefängnis im Norden Kaliforniens. Auf der Rückreise nahmen sie ein Motelzimmer und klappten den Laptop auf. Sie warteten gespannt auf die Urteilsverkündung im Prozess gegen George Zimmerman, den Nachbarschaftswächter einer Siedlung in Florida, der ein Jahr zuvor den schwarzen Teenager Trayvon Martin erschossen hatte. "Trayvon war einfach nur ein schwarzer Junge auf dem Heimweg", so erzählt es Cullors in ihrem Buch. "Ich gehe auf meine Facebook-Seite, um mich zu informieren. Und dann geschieht es", schreibt sie über den Moment, der ihr Leben ein weiteres Mal verändert wird: "Der Killer wird vom ersten Anklagepunkt freigesprochen. Und dann von allen anderen. Es verschlägt mir den Atem."

An diesem Abend liest Cullors einen Facebook-Eintrag von Alicia Garza, einer Bekannten. "Mich überrascht immer noch, wie wenig schwarze Leben zählen", schrieb Garza, worauf Cullors mit einem Hashtag antwortete, der um die Welt ging: "Black Lives Matter". Schwarze Leben zählen.

Es war keine gedankenlose Aneinanderreihung von Wörtern, die Cullors in ihren Laptop tippte. Es war keiner dieser unüberlegten Sätze, die man im Gefühlsüberschwang über Social Media in die Welt hinausposaunt, es war vielmehr die Quintessenz ihres Lebens, das mit dem Blick durch die Gitterstäbe bei ihrem Pool in Van Nuys begann. Dreißig Jahre in drei Worten. Ein amerikanisches Leben.

Cullors tat sich mit Garza zusammen, aus dem berühmten Hashtag wurde bald eine Bewegung, die heute weltweit Demonstrationen gegen Rassismus organisiert. Leider habe in den vergangenen Monaten Präsident Donald Trump, der Black Lives Matter als "Bedrohung" bezeichnet hat, die ganze mediale Aufmerksamkeit auf sich gezogen, beklagt Cullors. Niemand spreche mehr über die Gewalt in den Gefängnissen und über den Rassismus, obwohl sich die Situation nicht gebessert habe. "Die Anzahl der zivilen Todesopfer durch Polizeigewalt ist 2017 gestiegen." Man dürfe nicht aufhören, über Rassismus zu reden, "der uns sonst verfolgen wird, bis er uns alle umbringt".

© SZ vom 22.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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