Referendum in Griechenland:Gespalten in zwei Lager, gemeinsam pro Europa

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Vor der schicksalhaften Abstimmung am Sonntag demonstrieren Zehntausende Griechen - für und gegen die internationalen Sparvorgaben. Und egal ob "Ochi" oder "Nai"-Anhänger, beide Seite sehen sich als gute Europäer.

Von Matthias Kolb, Athen

Für einige Stunden geht es Kostas richtig gut. Der 40-Jährige besitzt einen Kiosk auf dem Syntagma-Platz im Zentrum von Athen, wo sich am Freitagabend mindestens 30 000 Menschen versammelt haben. Kostas freut sich nicht nur, weil er wegen der Hitze viel Eis und Getränke verkauft, sondern weil er ständig dieses eine Wort hört und liest: "Ochi".

Das "Nein", das für die Ablehnung zu den Sparvorschlägen der Geldgeber steht, haben sich manche Griechen in Großbuchstaben auf die Stirn geschrieben: Oxi. Es steht auf den Aufklebern, die viele T-Shirts zieren, und auf den Fahnen, die geschwenkt werden. Trotz des Betriebs verlässt Kostas fünf Minuten seine Bude, um die eigene Meinung zu begründen: "Ich habe zwei kleine Kinder und ich bin überzeugt, dass es für sie am besten ist, wenn das exzessive Sparen aufhört."

Heute verkaufe er viel, aber sonst sei es schwer, genug zu verdienen. Die Regierungen hätten immer wieder Steuern erhöht und Renten gekürzt, weshalb der Konsum gesunken sei. "Hier im Zentrum schließen immer mehr Geschäfte. Wie soll Griechenland Schulden zurückzahlen, wenn die Wirtschaft kollabiert?", sagt Kostas.

Schäuble wolle den Griechen nur Angst machen

Er ist überzeugt, dass Premier Alexis Tsipras nach einem klaren "Nein" des griechischen Volkes mit den Geldgebern einen besseren Deal mit den Gläubigern wird aushandeln können, auch wenn aus Brüssel und Berlin andere Signale kommen. "Finanzminister Schäuble und Eurogruppen-Chef Dijsselbloem werden auch wieder verhandeln. Sie wollen uns nur Angst machen, damit die Ja-Seite gewinnt", vermutet Kostas und verschwindet wieder in seinem Kiosk.

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Von außen wirkt die Abschlusskundgebung der "Oxi"-Anhänger wie ein friedliches Festival. Musiker wie Socratis Malamas oder Christos Thivaios treten auf, die Menschen klatschen und singen mit, viele tanzen. Wer die Vorgeschichte nicht kennt, die Schlangen vor den Bankautomaten nicht bemerkt und kein Griechisch lesen kann, der erkennt nicht, wie gespalten das griechische Volk ist. In den Umfragen liegen beide Seiten so eng beieinander, dass niemand wissen kann, wer am Sonntagabend jubeln wird - und wie es am Montag weitergeht ( mehr in dieser SZ-Analyse von Christiane Schlötzer und Mike Szymanski).

Tsipras will Griechenlands Würde retten

Der Mann, der für diese Unsicherheit und Spaltung verantwortlich ist, wird mit donnerndem Applaus begrüßt, als er um 21.40 Uhr ans Mikrofon tritt. "Am Sonntag werden wir nicht nur einfach über unseren Verbleib in Europa entscheiden", ruft Alexis Tsipras. Es gehe auch um "die Frage, ob wir mit Würde in Europa bleiben" könnten, argumentiert der 40-Jährige. Dass Tsipras wie so oft die "Erpressung" Athens der anderen Europäer beklagt und gegen die "Sklaverei der Austerität" schimpft, gefällt dem Publikum.

"Tsipras hat mir wieder Hoffnung gegeben, weil er Rückgrat hat", sagt Giorgia. Sie steht mit drei Freunden vor Kostas' Kiosk. "Ich bin die einzige in der Familie, die Arbeit hat. Ich muss meine Brüder mitversorgen, die finden keine Jobs. Dass die Bankautomaten nur 60 Euro täglich hergeben, ist mir egal: Ich habe kaum noch Ersparnisse", sagt sie und lacht bitter.

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Alle versuchen, optimistisch zu bleiben, ergänzt Kristina, doch dies falle immer schwerer. Die Armut setze allen zu, sagt Giorgia: "Ich arbeite bei der Müllabfuhr und ständig bitten mich Leute: 'Lass mich noch kurz in die Tonne sehen, ob dort etwas Essbares drin ist!' Das zu sehen, geht an die Substanz." In der Gruppe steht auch ein orthodoxer Priester, der sich als Andreas vorstellt: "Tsipras muss erst noch beweisen, was er kann. Er hat stets seinen Vorgängern vorgeworfen, gelogen zu haben, doch bisher hat er seine Versprechen auch nicht eingehalten." Auch Andreas wird am Sonntag mit "Nein" stimmen, damit der Rest der EU erkennt, dass es so nicht weitergehen kann.

Die Vorstellung, dass es Syriza-Chef Alexis Tsipras noch gelingen kann, eine Einigung mit weniger drastischen Sparauflagen zu erzielen, halten die Anhänger der "Ja"-Seite für abwegig. Etwa 20 000 haben sich vor dem antiken Stadion versammelt, das nur einen Fußmarsch durch den Nationalgarten vom Syntagma-Platz entfernt ist. Hier ist alles gesetzter, und das Publikum des "Nai"-Lagers ist älter als bei der "Ochi"-Seite. "Vor allem junge Leute wollen zu etwa 60 Prozent mit Nein stimmen, sie haben das Gefühl, auch mit der Drachme könnten sie nicht mehr viel verlieren", erklärte Umfrage-Experte Nikos Marantzidi der SZ.

Während auf der "Nein"-Demo noch gesungen wird, beenden die Befürworter gegen 22.30 Uhr ihre Abschlusskundgebung. Selfies werden vor den riesigen NAI-Lettern auf der Bühne gemacht. "Ich will mir nicht vorstellen, dass Griechenland nicht mehr Teil Europas ist", sagt der 30-jährige Luke, der in der Pharmabranche arbeitet. Die Ungewissheit über die Zukunft nach einem Grexit macht ihm ebenso Angst wie der Streit unter Freunden und Verwandten: Ständig wird von Familien berichtet, in denen eisiges Schweigen zwischen Eltern und Kinder herrscht.

Luke kritisiert Tsipras, der ein Populist sei und seine Wahlversprechen nicht einhalte - und nun durch das Referendum der Tourismusbranche schade. Doch auch die EU habe viele Fehler gemacht, sagt Luke. Der folgende Vortrag lässt sich so zusammenfassen: Brüssel habe von den Regierungen in Athen einen Primärüberschuss gefordert - also dass der Staat mehr einnimmt, als er ausgibt. Als Athen dies 2013 und 2014 erreicht hatte, habe es keine Umschuldung gegeben: "Dies hätte uns gezeigt, dass sich das Sparen lohnt. Alle wissen doch, dass wir nicht alle Schulden abbezahlen können."

Auch Jannis, ein 37 Jahre alter Arzt, wird mit "Ja" stimmen und auch er sorgt sich um seine Heimat. Seit Montag hätten Patienten 80 Prozent aller Termine abgesagt: "Ihnen fehlt das Geld. Wenn es nicht um Leben oder Tod geht, dann gehen sie nicht zum Doktor." Trotz seines Studiums falle es ihm sehr schwer, die sehr technische Frage auf dem Abstimmungszettel nachzuvollziehen. Er ist überzeugt, dass die meisten "Nein"-Befürworter keine Gegner der EU seien. "Die denken eher: 'Probieren wir es mit der Drachme wieder, wenn es nicht klappt, dann kehren wir zum Euro zurück.' Doch so leicht ist das nicht."

Ihn ärgert am meisten, dass das griechische Volk gespalten werde: "Die ganze Welt denkt nun, dass unser Land aus zwei gleich großen, unversöhnlichen Lagern besteht. Dabei sind sicher 70 bis 80 Prozent dafür, in der Eurozone zu bleiben." Er hoffe natürlich auf einen Erfolg der "Nai"-Seite, doch wie sich die Spannungen abbauen lassen, das weiß auch der Mediziner Jannis nicht.

Die Lager sind eigentlich recht nahe beieinander

Neben dem unerschütterlichen Selbstbewusstsein und trotzigem Optimismus der Griechen ist dies auch der Eindruck, der von diesem Abend bleibt: Egal, ob ein "Ochi" oder "Nai"-Sticker auf der Kleidung pappt, die beiden Seiten sind sich in ihrer Überzeugung, gute Europäer zu sein und weiter zur EU gehören zu wollen, ziemlich ähnlich. Genau wie in ihrer Wut über die sozialen Auswirkungen der Krise und in ihrer Sorge vor der Spaltung des Landes.

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Die Grundschullehrerin Mina hat eine andere Motivation. Sie erinnert mit einem Plakat an das historische "Nein" aus dem Jahr 1940, als die Griechen ein Ultimatum der italienischen Faschisten ablehnten. Bis heute wird jedes Jahr am 28. Oktober an dieses "Ochi" erinnert ( Details hier). Für Mina sind die "Ja"-Wähler "Verräter", denn sie hält es für die historische Pflicht der Griechen, am Sonntag wieder "Nein" zu sagen: "Wir wären sonst die erste Generation, die sich unterwirft." Wenn die Überzeugungen so unerschütterlich sind, dann wird Aussöhnung in den nächsten Wochen und Monaten schwierig.

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