Das Politische Buch:Die Fehde der Aufarbeiter

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Zahllose Mauern sind inzwischen wieder hochgezogen worden beim Kampf um die richtige Deutung der Vergangenheit - im Bild Styropor-Teile zur Feier des Mauerfalls im Jahr 2009. (Foto: Sean Gallup/Getty Images)

DDR-Deutung ist gerade "in". Der Historiker und einstige Regimekritiker Rainer Eckert könnte Aufklärung betreiben. Doch er legt ein wunderliches Werk vor mit Angriffen auf ehemalige Oppositionelle.

Rezension von Norbert F. Pötzl

Ein Buch, das zunächst verhindert wurde, ist nun doch erschienen. Ursprünglich sollte es im August vorigen Jahres unter dem Titel "Getrübte Erinnerungen?" im Mitteldeutschen Verlag veröffentlicht werden. Der Historiker Rainer Eckert beschreibt darin die geschichtspolitischen Auseinandersetzungen um die Aufarbeitung der SED-Diktatur. Nachdem der in Halle (Saale) ansässige Verlag Druckfahnen an Journalisten versandt hatte, um frühzeitige Rezensionen anzuregen, kursierte der Text rasch unter Akteuren der Aufarbeitungsszene. Mehrere im Buch erwähnte Personen meldeten Einsprüche wegen Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte an. Daraufhin kündigte der Verlag den Autorenvertrag mit Eckert, die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur zog ihren bereits bewilligten Druckkostenzuschuss zurück.

Nun hat der Leipziger Universitätsverlag das umstrittene Werk herausgebracht, hier und da unter Berücksichtigung der erhobenen Einwände und versehen mit einem Vorwort, in dem der Verfasser die durch sein Buch ausgelöste Kontroverse aus seiner Sicht kommentiert. Der neue Titel "Umkämpfte Vergangenheit" kennzeichnet treffend das Sujet: Die kleine Schar derjenigen, die die Aufarbeitung der SED-Diktatur betreibt - mehrheitlich ehemalige DDR-Bürgerrechtler, Dissidenten und Verfolgte der kommunistischen Herrschaft -, ist untereinander zerstritten und verfeindet. Rainer Eckert ist allerdings selbst ein Teil dieses Problems.

"Ein Insider, der ins Abseits geraten ist."

Eckert, 1950 in Potsdam geboren, in der DDR politisch verfolgt, leitete von 1997 bis 2015 das Zeithistorische Forum Leipzig. Im ersten Kapitel seines Buches behandelt er seinen Abschied von dieser Institution, dessen Form ihn zutiefst gekränkt hat. So wurde verletzte Eitelkeit zur Triebfeder seiner Abrechnung mit Personen und Institutionen, die ihm nicht gut gesinnt sind. Karim Saab, einst ein Leipziger Oppositioneller, nennt Eckert einen "Insider der heillos zerstrittenen Aufarbeitungsszene, der ins Abseits geraten" ist.

Traumatische Vergangenheit: Bildnis von Erich Honecker im Vernehmungszimmer in der Zentralen Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit der DDR in der Gedenkstätte Berlin Hohenschönhausen. (Foto: imago stock&people)

Eckert sieht seine Verdienste um die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, die sich in kaum zu zählenden Gremien- und Verbandsmitgliedschaften manifestieren, nicht hinreichend gewürdigt. Schulmeisterlich vergibt er Noten an andere Akteure, teilt Initiativen in "richtig" und "falsch" ein und kanzelt ab, was nicht seinen Vorstellungen entspricht. Dabei scheut er keine Verbalinjurien: Seine Widersacher sind "heimtückisch", "verleumderisch" oder verfügen nur "über nur geringe Expertise". Eckert beansprucht für sich Deutungshoheit, die er anderen abspricht, wenn er etwa dem Leiter der Leipziger Gedenkstätte Museum in der "Runden Ecke", Tobias Hollitzer, "Platzhirschgehabe" und "Ausgrenzung" vorwirft. Durchgehend einig ist sich Eckert nur mit seinem Freund Ilko-Sascha Kowalczuk, dem ostdeutschen Historikerkollegen, den er ein ums andere Mal zustimmend zitiert. Kowalczuk wiederum warf dem Mitteldeutschen Verlag nach dessen Rückzieher einen "in der DDR-Aufarbeitungslandschaft einmaligen Fall von 'cancel culture'" vor.

Viele Betroffene forderten Änderungen am Text

Einsprüche gegen das Buch kamen unter anderem von dem einstigen DDR-Oppositionellen Uwe Schwabe, der sich dagegen wehrte, dass Eckert ungefragt aus privatem Schriftverkehr zitierte. Andere, wie der frühere Leiter der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Hubertus Knabe, verlangten Korrekturen, die Eckert teilweise erfüllte.

Anstoß erregten vor allem die Schmähungen Eckerts gegen die ehemalige DDR-Spitzensprinterin Ines Geipel, die Opfer des staatlichen Zwangsdopings war und von der Staatssicherheit bespitzelt wurde; sie lehrt heute als Professorin an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch und ist als Publizistin tätig. Für viele Ostdeutsche ist sie offenbar eine Zumutung, weil sie besonders schonungslos auf die DDR blickt, an die sich viele nicht als Diktatur, sondern als Heimat erinnern möchten.

Auseinandersetzung mit Ines Geipel

Eckert kolportiert ungeprüft missgünstige Behauptungen über Geipel, um Zweifel an deren Biografie zu säen. Eben diese Absicht verfolgt auch Eckerts Freund Kowalczuk, ein langjähriger Mitarbeiter der Stasi-Unterlagen-Behörde, der eine Ablichtung aus Geipels unrechtmäßig in Umlauf gebrachter Stasi-Opfer-Akte an den inzwischen verstorbenen Grünen-Politiker Werner Schulz verschickte und gegen Auszeichnungen Geipels mit renommierten Literaturpreisen lebhaft intervenierte. Kowalczuk verübelt Geipel eine kritische Rezension seines letzten Buches, in dem er die DDR zum Opfer einer feindlichen "Übernahme" (so der Buchtitel) durch den Westen stilisierte.

Ein von Geipel angebotenes Vieraugengespräch lehnte Eckert ab. Uneinsichtig beharrt er darauf, dass er "nur Dinge zusammenfassend" beschrieben habe, "die durch die Presse gegangen waren oder vor Gerichten verhandelt worden sind". Eigene Quellenstudien zur Faktenlage betrieb er nicht - erstaunlich für einen Historiker. Wenn das Kapitel "Ines Geipel und das Doping" wirklich "keine große Rolle spielt", wie Eckert behauptet, hätte er die fünf Seiten aus dem (ohne Anmerkungen) knapp 300 Seiten umfassenden Text streichen können. Aber es geht ihm ersichtlich darum, Kowalczuk bei dessen Feldzug gegen Geipel zu unterstützen.

Gegenteilige Äußerungen werden unterschlagen

Überhaupt ficht Eckert Kämpfe an allen Fronten aus. Schon die Kapitelüberschriften markieren Martialisches: Der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen bewegte sich in einem "Kampffeld", Kämpfe gab es um die Gedenkstätte Hohenschönhausen und um die Historische Kommission beim Parteivorstand der SPD. Im Text setzen sich die Kämpfe fort: "um Referenten", "gegen Mythen", "gegen mein Gutachten", "um Deutungshoheit" - und Eckert immer mittendrin. Eckert gibt vor, Chronist der Aufarbeitung sein, aber er ignoriert, was ihm nicht ins Konzept passt. Er zitiert ihm genehme Aussagen, aber unterschlägt gegenteilige Äußerungen.

Rainer Eckert: Umkämpfte Vergangenheit. Die SED-Diktatur in der aktuellen Geschichtspolitik der Bundesrepublik Deutschland. Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2023. 435 Seiten, 40 Euro. (Foto: Leipziger Universitätsverlag)

Dass es unter den zumeist ostdeutschen Aufarbeitern unterschiedliche Sichtweisen gibt, ist nicht verwunderlich. Die Oppositionellen in der DDR waren zu keiner Zeit eine homogene Gruppe. Einig waren sie sich nur in der Ablehnung und Überwindung des SED-Systems, was durch die friedliche Revolution im Herbst 1989 gelang. Danach trennten sich ihre Wege wieder. Viele wirkten und wirken in Parteien und Parlamenten mit, beförderten die demokratische Entwicklung im vereinten Deutschland. Andere gerieten durch Eigenbrötelei in die Bedeutungslosigkeit, einige drifteten auch in ein populistisches oder gar rechtsextremes Umfeld ab.

Wer hat das Recht, die Vergangenheit zu deuten?

Eckert beschreibt mit einem Hang zur Rechthaberei die "Konflikte in der deutschen Erinnerungskultur", bewertet aus seiner subjektiven Sicht die Arbeit der diversen Stiftungen und Gedenkstätten und beschäftigt sich mit der Diskussion um die "ostdeutschen Eliten". Einstige Gegner des SED-Regimes wurden zwar, was Eckert positiv hervorhebt, "zu einer wichtigen Gestaltungsmacht bei der Auseinandersetzung mit der jüngeren Vergangenheit". Aber "dieses Milieu hat", wie Kowalczuk zu Recht beklagt, "in den vergangenen Jahren erheblich an Einfluss und Relevanz verloren. Längst dominieren andere Narrative über die DDR, die immer häufiger nicht mehr als Diktatur rekonstruiert wird".

Gerade deshalb hätte Eckerts Buch ein Gegenpol zu den aktuellen geschichtsrevisionistischen Bestsellern von Katja Hoyer ("Diesseits der Mauer") und Dirk Oschmann ("Der Osten: eine westdeutsche Erfindung") werden können, mit denen die einstigen Stützen und Mitläufer des SED-Regimes beglückt werden. Die Chance ist leider vertan.

Norbert F. Pötzl hat unter anderem Biografien über Erich Honecker und Wolfgang Vogel sowie das Buch "Der Treuhand-Komplex" verfasst.

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