Ein Buch, das im Untertitel "eine neue Geschichte der DDR" verspricht, weckt Erwartungen. Neugierig macht, dass es sich bei der Autorin um eine 1985 in der DDR geborene, inzwischen in England lebende Historikerin handelt, die womöglich mit einem frischen, weltoffenen Blick auf den untergegangenen SED-Staat zurückschaut. Leider enttäuscht das Buch von Katja Hoyer auf der ganzen Linie.
Die "neue Geschichte" entpuppt sich als die alte Erzählung von einer unter dem Strich ganz kommoden Diktatur. Es zeigt eben nicht "alle Facetten dieses verschwundenen Landes", sondern bemüht sich nachzuweisen, dass nicht alles schlecht war in der DDR. "Das Leben war im Grunde recht angenehm", resümiert die Autorin. Für die Tochter eines Offiziers der Nationalen Volksarmee und einer Lehrerin mag es sich nach den Erzählungen der Eltern so anfühlen. Wer indes von der Staatsmacht schikaniert, bespitzelt, gar inhaftiert wurde, wer seinen Beruf nicht frei wählen durfte, freie Meinungsäußerung und freie Wahlen vermisste, erinnert sich anders.
Egon Krenz und Frank Schöbel als Kronzeugen
Einen dubiosen Kronzeugen für ihre DDR-Darstellung benennt Hoyer schon im Vorwort. Sie beruft sich ausgerechnet auf den notorischen Geschichtsklitterer Egon Krenz, den letzten SED-Generalsekretär, der bis heute die DDR als bessere Alternative zur alten Bundesrepublik schönfärbt. Als zweiten Gewährsmann führt Hoyer den DDR-Schlagersänger Frank Schöbel an, der als privilegierter Promi an der DDR natürlich nichts auszusetzen findet. Im Übrigen basiert das Buch vor allem auf einem Dutzend von Katja Hoyer selbst geführter Interviews mit ehemaligen DDR-Bürgern sowie auf Auszügen aus Internet-Zeitzeugenportalen und anderswo veröffentlichten persönlichen Erinnerungen. Das könnte ein interessanter Ansatz sein, Geschichte von unten zu erzählen. Aber die Autorin lässt nur Menschen zu Wort kommen, "die den Staat funktionieren ließen". Systemkritiker haben in dieser Erzählung keine Stimme.
Hoyer macht es sich einfach: "Geschichte wird von Siegern geschrieben", konstatiert sie, "auch die der DDR." Weil "der Westen" die Deutungshoheit über vierzig Jahre ostdeutschen Sozialismus gewonnen habe, biegt sie sich die Geschichte der DDR nach ihrem Gusto zurecht.
Die Stalin-Note als reelles Angebot?
Die Militarisierung der DDR-Gesellschaft beschreibt Hoyer als Reaktion auf westdeutsche Aufrüstung. Sie unterschlägt, dass Stalin seine ostdeutschen Vasallen schon 1952 instruierte, die DDR müsse eine "Volksarmee schaffen" - worauf prompt die "Kasernierte Volkspolizei" gegründet wurde, drei Jahre vor der Bundeswehr. Hoyer insinuiert, die DDR-Führer hätten "ihren Staat ... gegen den Westen verteidigen müssen", als ob jederzeit ein bewaffneter Angriff hätte erfolgen können. Die DDR sei "permanent in Alarmbereitschaft" gewesen, die "teilweise berechtigt" gewesen sei, behauptet sie. Welch ein Unfug!

Stalins Angebot vom März 1952, eine neutrale gesamtdeutsche Regierung zu bilden, sei eine reelle Chance für eine frühere deutsche Wiedervereinigung gewesen, will Hoyer glauben machen. Der Westen habe den Vorschlag "damit abgetan, dass man versuchte, Stalin als die unredliche Partei darzustellen". Hoyer verschweigt, dass Stalin selbst den Propaganda-Bluff eingeräumt hat, um die Integration der Bundesrepublik in die westliche Staatengemeinschaft zu verhindern. Dass der Volksaufstand am 17. Juni 1953 "von der Frustration über Arbeitsbelastung und Bezahlung" getragen wurde, kann auch Hoyer nicht leugnen. Aber er sei "vom Westen gefördert" worden, um in der DDR "weitere Unruhe zu schüren".
So geht die SED-Lesart in einem fort. Der ökonomische Misserfolg der DDR lag, wenn man Hoyer glaubt, weniger an der ineffektiven Planwirtschaft, sondern vor allem an der westdeutschen Hallstein-Doktrin: Nur wenige Länder hätten es vor 1972 gewagt, die DDR als souveränen Staat anzuerkennen. "Die Folge: Produkte wie Kaffee, Seife oder Schokolade blieben schwer zu bekommen" - als ob das die einzigen wirtschaftlichen Probleme der DDR gewesen wären.
Hoyer preist den "Antifaschismus als Gründungsdogma" der DDR. In Wirklichkeit hatten viele Spitzenpolitiker, Mediengrößen und Angestellte im öffentlichen Dienst eine Nazivergangenheit. 1954 beispielsweise waren 27 Prozent aller SED-Mitglieder einst in der Hitler-Partei und deren Gliederungen gewesen. Und 32 Prozent aller damaligen Staatsbediensteten gehörten früher einmal nationalsozialistischen Organisationen an. Die DDR schuf sogar eine eigene Partei, die Nationaldemokratische Partei, als Auffangbecken für ehemalige NSDAP-Mitglieder und -Funktionäre.
Frauen litten oft unter einer Mehrfachbelastung
Auch den Mythos von der Gleichberechtigung der Geschlechter in der DDR pflegt Hoyer. Tatsächlich wurden Frauen wegen Arbeitskräftemangel in die sozialistische Arbeitswelt integriert, stiegen aber selten auf und verdienten durchschnittlich 30 Prozent weniger als Männer. Ihr Leben war oft eine Mehrfachbelastung: Arbeit, Haushalt, Kinder - zumal in den Familien die traditionelle patriarchalische Rollenverteilung herrschte. Ostdeutsche Autorinnen wie Anna Kaminsky und Freya Klier haben die Emanzipationslegende längst widerlegt.

Die Beschäftigung von ausländischen "Vertragsarbeitern", zuletzt waren es etwa 90 000, preist Hoyer als Akt sozialistischer Solidarität und altruistischer Entwicklungshilfe. Die Realität sah anders aus: Die Vertragsarbeiter waren moderne Sklaven. Die DDR lockte sie mit falschen Versprechen, etwa beruflichen Qualifizierungen oder Hochschulstudien, und nutzte sie als billige Arbeitskräfte aus. Sie lebten in Ghettos, abgeschirmt von den DDR-Bürgern. Wer gegen das Kontaktverbot verstieß, gar eine Liebesbeziehung einging, konnte in sein Heimatland zurückgeschickt werden. Das alles ist durch Studien belegt, aber Hoyer behauptet unverdrossen, die Ausländer seien "weder aufgrund schierer wirtschaftlicher Notwendigkeit ins Land geholt" worden noch seien sie "aus zynischen oder gar fremdenfeindlichen Gründen weitgehend isoliert" gewesen, "wie man gelegentlich behauptet".

Das gemeinsame Positionspapier von SPD und SED ("Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit") aus dem Jahr 1987 interpretiert Hoyer ganz im Sinne ihres Mentors Krenz. Sie feiert die außenpolitischen Aussagen ("Politik der gemeinsamen Friedenssicherung"), unterschlägt aber, dass die SED die öffentliche Diskussion über das Papier alsbald unterband, weil sich DDR-Bürger auf die darin enthaltene Passage über "freie Information und offene Diskussion innerhalb jedes Systems" berufen konnten.
Schikanen, Schießbefehl - kommt alles nicht vor
Schikanen gegen bekennende Christen, staatlich praktizierter Antisemitismus, Mielkes Blockwartsystem und Honeckers Schießbefehl - all das findet in dem Buch nicht statt. An ihrem Feindbild, dem bösen Westen, hält Hoyer auch über das Ende der DDR hinaus fest. Mit nachweislich falschen Zahlen über abgewickelte Unternehmen und verlorene Arbeitsplätze - wie vieles im Buch ohne Quellenangabe - betreibt sie das gängige Treuhand-Bashing, als sei diese Institution und nicht die verfehlte Wirtschaftspolitik der SED am Niedergang der ostdeutschen Industrie schuld gewesen.
Hoyer empfiehlt letztlich, "die deutsche Obsession der Vergangenheitsbewältigung abzuschütteln". Für eine Historikerin ist dies eine erstaunlich geschichtsvergessene Auffassung. Das Gegenteil wäre wünschenswert: dass die Ostdeutschen nicht aus ihrem Gedächtnis verdrängen, was das Regime verbrochen hat. Dies ist kein unbilliges westdeutsches Ansinnen, sondern Freya Kliers "elftes Gebot: Du sollst dich erinnern!"
Norbert F. Pötzl hat unter anderem Biografien über Erich Honecker und Wolfgang Vogel sowie das Buch "Der Treuhand-Komplex" verfasst.