Demonstration in Essen:"Irgendwann muss ich ja anfangen"

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"Ganz Essen hasst die AfD!", hallt es immer wieder von dem Kleinlaster des Bündnisses "Essen stellt sich quer". (Foto: David Young/DPA)

Proteste gegen die AfD und Rechtsextremismus: Auf 600 Teilnehmer hatten die Organisatoren in Essen gehofft - es kamen 6700. Eine Montagsdemo als Familienspaziergang.

Von Christian Wernicke, Essen

Gudrun und Harald Schießl gehen ihren Weg wie selbstverständlich. Ohne große Worte oder Parolen, einfach geradeaus die Rüttenscheider Straße runter, "die Rü", Essens bessere Einkaufsmeile.

"Drei, vier Jahrzehnte her" sei es, sagt er, der 64-jährige Pensionär, dass die beiden zuletzt bei einer politischen Demo waren. Sie haben ihre Hände in die Winterjacken gestopft, ihr Atem dampft in der Kälte. "Trotzdem", sagt sie und lächelt ein wenig stolz, "jetzt ist es höchste Zeit. Und dass so viele gekommen sind, das macht uns Mut."

Hinter dem Ehepaar halten Studenten selbstgebastelte Pappschilder hoch. "Wann, wenn nicht jetzt!" steht da zu lesen, oder "Ganz Essen hasst die AfD!" Diesen Slogan skandiert ab und an eine Frauenstimme über die Lautsprecher vorn auf der Ladefläche des Kleinlasters. Den hat "Essen stellt sich quer", das lokale "Bündnis gegen Rassismus und Faschismus", für diesen abendlichen Protestmarsch angemietet.

6700 demonstrieren in Essen, mindestens 7000 in Leipzig, 2500 in Rostock

Obwohl, ein Marsch ist das nicht. Diese Montagsdemo ist eher ein Familienspaziergang. Zwei Väter, die ihre Kinderwagen vorbeischieben an Bäckereien und Boutiquen, scherzen miteinander; zehn Meter weiter vorn halten "Oma und Opa gegen rechts" gelassen ihr Plakat in der linken und die Enkelin an der rechten Hand. Bei der Abschlusskundgebung eine Stunde später vor der Grugahalle wird ein Redner die Menge beschwören: "Die schweigende Mehrheit muss jetzt aufstehen."

Aber steht sie da nicht schon, die "schweigende Mehrheit" gegen AfD und Rechtsextreme? Mit 500 bis 600 Teilnehmern hatte "Essen stellt sich quer" gerechnet - gekommen sind elf Mal so viele: 6700 Bürger, das bestätigt die örtliche Polizei der SZ. Und auch anderswo demonstrieren am Montagabend Tausende gegen die AfD: mindestens 7000 Menschen in Leipzig, 2500 in Rostock.

Viele hat offenbar der Bericht des Recherchenetzwerks "Correctiv" über Pläne der Rechten, Menschen mit Migrationshintergrund zu deportieren, auf die Beine gebracht. (Foto: Ina Fassbender/AFP)

Auf die Beine gebracht hat offenbar viele ein Bericht des Recherchenetzwerks "Correctiv" von voriger Woche. Demnach hatten sich im November mehrere AfDler, rechtsextreme Identitäre und zwei CDU-Mitglieder der sogenannten "Werteunion" in einem Potsdamer Landhotel über Pläne für eine massenhafte Zwangsausweisung von Zugewanderten und Deutschen mit Migrationshintergrund beraten.

"Ich hab seitdem schlaflose Nächte"

"Ich hab seitdem schlaflose Nächte", sagt die Oma, eine Pflegerin. Ihr Mann, der Opa, stimmt zu: "Dabei haben wir davon doch alle zigmal in der Schule gehört." Von Deportationen, vom Hass und Krieg: "Es kommt wieder hoch, das ist das Schreckliche."

Fast wortgleich erzählen Teilnehmer der Demo, wie "schockiert" und "aufgerüttelt" sie seither seien. Forderungen nach einem Verbot der AfD ernten lauten Beifall. Und jene, die schon öfter gegen rechts auf die Straße gingen, werden nun plötzlich von Freunden oder Kollegen angesprochen. "Jetzt beschäftigt das auch Bekannte, die sich weniger für Politik interessieren", sagt eine Bildungsreferentin, "die wollen was tun."

Manche sind am Montag sogar zum allerersten Mal auf einer Demonstration. Die 14-jährige Lara zum Beispiel ist mit ihren Eltern gekommen, auf eigenen Wunsch, wie der Vater betont. Lara nickt und strahlt: "Irgendwann muss ich ja anfangen."

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