Polen:Arbeiten geht auch ohne Regierung

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"Versorgen Sie sich mit Popcorn, es wird wieder spannend!" Der neue Sejm-Marschall Szymon Hołownia wirbt für Parlamentssitzungen. (Foto: Piotr Molecki/IMAGO/Eastnews)

Auch drei Wochen nach der Wahl zögert die PiS-Partei noch immer hinaus, dass das Mehrheitsbündnis um Donald Tusk regieren kann. Im Parlament aber weht schon der neue Wind.

Von Viktoria Großmann, Warschau

Am Dienstag soll viel passieren im polnischen Sejm, sagt Szymon Hołownia. "Versorgen Sie sich mit Popcorn, es wird wieder spannend!", sagte er am Donnerstag bei einer Pressekonferenz. Noch vor vier Jahren moderierte der nun 47-Jährige im Privatfernsehen die Unterhaltungssendung "Ich habe Talent". Damals trug er Jeanshemden und bunte T-Shirts. Heute leitet er in blauem Anzug und mit Krawatte die Sitzungen im polnischen Abgeordnetenhaus, dem Sejm. Am 13. November wurde Hołownia zum neuen Sejmmarschall, also zum Vorsitzenden, gewählt.

Nach der Wahl am 15. Oktober hat Polen noch keine neue Regierung. Doch im neuen Sejm hat die acht Jahre lang regierende PiS-Partei keine Mehrheit mehr, und das ist bereits sichtbar an den Themen, die verhandelt werden und daran, wie debattiert wird. Auch nach der Wahl mit einer Rekordbeteiligung von fast 75 Prozent ist das Interesse an der Politik groß: Die Sejm-Sitzungen entwickeln sich gerade zum Youtube-Hit. Das liegt wohl auch an Szymon Hołownia.

Künstliche Befruchtung ist eines der ersten Themen

Vier Sitzungen in der neuen Legislatur hat er bereits hinter sich. Verhandelt werden so unterschiedliche Themen wie die staatliche Finanzierung von In-vitro-Fertilisationen und die Tätigkeit des Ausschusses zur Untersuchung russischer Einflussnahme auf polnische Politiker. Diesen Ausschuss hatte die PiS-Regierung erdacht, er gilt als völlig rechtswidrig und mit der Verfassung unvereinbar, da er willkürlich besetzt wird und ähnlich weitreichende Rechte hat wie ein ordentliches Gericht. Das entsprechende Gesetz erhielt von der Opposition den Namen "Lex Tusk", denn der Ausschuss sollte offensichtlich Tusks Karriere beenden. Nun soll im Sejm diskutiert werden, die Mitglieder des Ausschusses zu entlassen.

Auch das Thema künstliche Befruchtung ist groß - 500 000 Menschen hatten in einer Petition die Kostenübernahme gefordert. Die damalige Regierung Donald Tusks hatte sich am Ende ihrer Amtszeit 2015 geeinigt, Paaren, die sich Kinder wünschen, die Kosten für In-vitro-Fertilisationen zu erstatten. Das Programm lief nur wenige Monate, bis die PiS an die Regierung kam und es beendete. Die Partei Tusks sowie deren erklärte Koalitionspartner versprachen bereits im Wahlkampf, das Programm wiederaufzunehmen.

Die neue Koalition steht längst: Am 10. November präsentierten Donald Tusk (3. von links) und seine Partner die Vereinbarungen. (Foto: Wojtek Radwanski/AFP)

Der Sejm, das ist wohl auch als Botschaft an die Wählerinnen und Wähler zu verstehen, arbeitet bereits. Auch wenn es noch keine Regierung gibt. Derzeit sucht der noch amtierende Ministerpräsident Mateusz Morawiecki von der PiS-Partei nach einer Mehrheit, die er aber nicht findet. Immer wieder erteilen seine gewünschten Partner ihm öffentlich Absagen. Bis Mitte Dezember kann sich das noch hinziehen, vor Weihnachten könnte dann die neue polnische Regierung, bestehend aus drei Wahlbündnissen, stehen. Donald Tusk von der liberalen Bürgerplattform könnte dann erneut Ministerpräsident werden.

Mit dabei ist die Linke sowie das Bündnis Dritter Weg, das aus zwei Parteien besteht. Eine davon ist Polska 2050, gegründet von Szymon Hołownia, er ist einer der Stimmenkönige dieser Wahl. Polska 2050 steht für Klimapolitik und Umweltschutz, aber auch für eine christlich-konservative Weltsicht. Eine Legalisierung von Abtreibungen lehnt die Partei ab. Hołownia ist ebenso bekennender Vegetarier wie Katholik. Sein Partner im Bündnis Dritter Weg ist die Bauernpartei PSL.

Einiges dürfte ans Licht kommen, das nicht gut aussieht für die PiS

Diese wird von der PiS sehr umworben, hat sich aber längst mit den anderen auf eine Koalitionsvereinbarung geeinigt. Die PiS kommt zunehmend in Bedrängnis. Im Sejm soll es am Dienstag auch darum gehen, dass unter Führung der PiS offenbar gegen Geld Tausende Arbeitsvisa ausgestellt wurden. Zudem stehen Spähaktionen gegen Oppositionspolitiker mithilfe der Pegasus-Software auf der Tagesordnung. Und gerade veröffentlichte die Tageszeitung Rzeczpospolita Recherchen zum Streit um das Getreide aus der Ukraine.

Weil zu viel Raps, Mais und Getreide aus der Ukraine auf den polnischen Markt gelangt waren, statt in Drittländer weiterexportiert zu werden, konnten die polnischen Landwirte ihre nun zu teuren Waren nicht mehr verkaufen. Es kam zu Protesten, die Regierung stoppte den Güterverkehr, sie machte die EU verantwortlich. Laut Rzeczpospolita trägt aber die PiS-Regierung selbst Schuld an dieser Situation, sie habe den Bauern vom Verkauf ihrer Produkte abgeraten, jedoch, wie die Zeitung unter Berufung auf den Landesrechnungshof schreibt "ohne Planung und Marktanalyse".

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Im Sejm versuchen PiS-Politiker, ihre Vorhaben zu retten. So will Morawiecki auch im kommenden Jahr private Haushalte und soziale Einrichtungen bei der Rechnung für Strom, Gas und Heizung unterstützen - ohne nach Ansicht von Kritikern die Finanzierung zu klären. Immerhin: Über Sozialausgaben wird sich auch eine neue Regierung Gedanken machen müssen. Andere PiS-Politiker treten deutlich weniger konstruktiv auf, verhöhnen gar Sejm-Marschall Hołownia. Der nimmt es anscheinend mit Humor. Kürzlich schaltete er einem Abgeordneten nach mehreren Ermahnungen, die Redezeit einzuhalten, kurzerhand das Mikrofon aus.

Am Montag möchte Mateusz Morawiecki sein Kabinett vorstellen. Ein Vorgang, in den eigentlich auch Hołownia protokollarisch eingebunden werden müsste, doch Morawiecki gehe ihm eher aus dem Weg, sagt der Sejm-Marschall. Morawiecki wird dann nochmals 14 Tage Zeit erhalten, um ein Programm vorzulegen - über das der Sejm abstimmen muss. Erst danach kann wohl wirklich eine neue Regierung gebildet werden.

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