Polen:Manövriert Warschau das EuGH-Urteil aus?

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Die EU hadert wegen rechtswidriger Justizreformen mit Polens Oberstem Gericht (im Bild), an dem eine politisch gelenkte Disziplinarkammer installiert wurde. (Foto: Omar Marques/Getty)

Die wegen der Gefahr für die Unabhängigkeit der Justiz von der EU verbotene Disziplinarkammer will die polnische Regierung offenbar nur abschaffen "in der Gestalt, in der sie gegenwärtig funktioniert".

Von Florian Hassel, Belgrad

Werden Polen nach Heldentaten in ihrer Geschichte befragt, taucht mit Sicherheit auch der Kampf um die Westerplatte auf. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges und des deutschen Überfalls auf Polen harrte ein Häuflein polnischer Soldaten trotz Granatfeuer auf der Halbinsel vor Danzig aus und ergab sich erst nach sieben Tagen einer vielfachen deutschen Übermacht.

Als Helden mit Anspruch auf einen Platz in Polens Geschichte betrachten sich offenbar auch die Mitglieder der Disziplinarkammer am Obersten Gericht. Diese Kammer ist kein Gericht, haben der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) und unabhängige polnische Richter geurteilt - und dies damit begründet, dass sie unter politischer Kontrolle gebildet und mit politisch ernannten Richtern besetzt wurde. Eigentlich hätte die Disziplinarkammer ihre Tätigkeit schon im April 2020 einstellen müssen. Am 15. Juli wurde ihr Verbot durch ein EuGH-Urteil bekräftigt.

Das jedoch wollten die Mitglieder nicht akzeptieren, am 2. August trat die Disziplinarkammer wieder zusammen. Zur Rechtfertigung erinnerten sie an die Verteidigung der Westerplatte und an Johannes Paul II.: Der polnische Papst hatte 1987 auf der Westerplatte gesagt, es gebe im Leben eines jeden gerechte Dinge, für die man kämpfen müsse und "nicht desertieren" könne - deshalb würden auch sie, die Kammermitglieder, weiter Urteile fällen.

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Aber Scheinhelden sind eine Sache, die Milliarden der Europäischen Union eine andere. Bis zum 15. August muss Polen der EU-Kommission darlegen, wie es das EuGH-Verbot umsetzen will: Andernfalls will Brüssel beim EuGH nicht nur hohe tägliche Strafgelder beantragen. Auch Dutzende Milliarden Euro, die Polen aus dem 750-Milliarden-Euro-Wiederaufbaufonds der EU bekommen soll, könnten auf unabsehbare Zeit eingefroren werden. Um bei der EU-Kommission Zeit zu gewinnen, bereitet Warschau nun ein Manöver vor: Die rechtswidrige Disziplinarkammer soll in ihrer heutigen Form zwar beerdigt, an der weitgehenden Demontage des Rechtsstaats aber nichts Wesentliches geändert werden.

Rechtswidrige Urteile sind nicht aufgehoben

Am 28. Juli schrieb Małgorzata Manowska, die im Frühjahr 2020 selbst rechtswidrig ernannte Präsidentin des Obersten Gerichts, an den Regierungschef, den Präsidenten und die Vorsitzenden beider Parlamentskammern. Unabhängig von "möglichen weitgehenden finanziellen Konsequenzen bei Missachtung von EuGH-Urteilen" befinde sich das Disziplinarregime für Richter "in faktischer Lähmung". Die Gesetze müssten geändert werden. Ähnlich äußerte sich kurz darauf Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, der nominell Hauptverantwortliche für Verhandlungen mit der EU.

Das entscheidende Wort fiel am vergangenen Samstag: "Wir werden die Disziplinarkammer in der Gestalt, in der sie gegenwärtig funktioniert, liquidieren" und so "den Stein des Anstoßes" beseitigen, sagte Jarosław Kaczyński, Chef der Regierungspartei PiS und Polens faktischer Regierungschef. Entsprechende Gesetzesentwürfe würden im September präsentiert.

Rechtswidrige Entscheidungen wie die Suspendierung der für eine unabhängige Justiz eintretenden Richter Igor Tuleya oder Paweł Juszczyszyn sind damit aber nicht aufgehoben. In gut 120 anhängigen Verfahren kann die illegale Disziplinarkammer erst einmal weiter urteilen. Auch kommende Änderungen würden "nicht bedeuten, dass die Kammer in keinerlei Form mehr funktioniert", so Kaczyński. Seine Parteikollegin, Vize-Parlamentspräsidentin Anna Milczanowska, sekundierte: "Wir überlegen, die Disziplinarkammer mit der Strafrechtskammer des Obersten Gerichts zu vereinigen. Es werden keine revolutionären, sondern evolutionäre Änderungen."

Das EuGH-Urteil vom 15. Juli und andere europäische Gerichtsbeschlüsse betreffen allerdings nicht nur die Disziplinarkammer: Polens gesamtes Auswahl- und Disziplinarregime für Richter widerspricht laut EuGH europäischem Recht. Auch ein politisch abhängiger Landesjustizrat zur Auswahl aller Richter und etliche Gesetze zu Gerichten müssen geändert werden. Weit über 550 der seit 2018 ernannten polnischen Richter sind möglicherweise gar keine Richter. Einem bereits rechtskräftigen, bindenden Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zufolge gilt dies auch schon für rechtswidrig ernannte Richter am politisch kontrollierten Verfassungsgericht Polens: Jedes Urteil, an dem sie seit 2016 mitgewirkt haben, ist potenziell ungültig.

Am Durchgreifen der EU bestehen Zweifel

Doch Kaczyński und sein Justizminister-Generalstaatsanwalt Zbigniew Ziobro zeigen bisher keine Bereitschaft, die Demontage der unabhängigen Justiz generell zurückzunehmen. Im Gegenteil, Kaczyński plädiert jetzt dafür, die Immunität von Richtern grundsätzlich aufzuheben. Und grundsätzlich erkenne er EuGH-Urteile zur Rechtswidrigkeit des polnischen Justizumbaus "nicht an".

Schon im Juli urteilte Polens Verfassungsgericht, die EuGH-Vollmachten und entsprechende Artikel in europäischen Verträgen widersprächen der Verfassung - obwohl Polen sie unterschrieben hat. Generalstaatsanwalt Ziobro hat das Verfassungsgericht aufgefordert, auch Teile der 1993 von Polen unterschriebenen Europäischen Menschenrechtskonvention für verfassungswidrig zu erklären. Am 5. August bekräftigte Ziobro in der Tageszeitung Rzeczpospolita, er sei gegen "eine polnische Kapitulation" vor der "rechtlosen Erpressung der Europäischen Union durch den EuGH". Polen müsse "nicht um jeden Preis" Mitglied der EU sein.

Ohnehin sei ein Durchgreifen gegenüber Polen unwahrscheinlich. "Die Länder der EU haben in Polen gewaltige Interessen. Für die Deutschen zum Beispiel sind wir der drittgrößte Handelspartner." Deswegen stünden "radikale Handlungen gegenüber Polen im Gegensatz zum Interesse der EU selbst."

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