Polen:Verfassungsgericht verhängt Abtreibungsverbot - ohne Ausnahme

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Protest die Verschärfung des Abtreibungsrechts in Polen. (Foto: Marcin Bielecki/dpa)

Bei der Entscheidung nutzte womöglich PiS-Parteichef Jarosław Kaczyński seine guten Beziehungen. Das Urteil dürfte vor europäischen Gerichten angefochten werden.

Von Florian Hassel, Warschau

Polens von der nationalpopulistischen Regierungspartei PiS kontrolliertes Verfassungsgericht hat das geltende Abtreibungsrecht im zentralen Punkt für verfassungswidrig erklärt. Folge ist ein faktisch vollständiges Abtreibungsverbot in dem 38-Millionen-Einwohner-Land.

War Abtreibung zur Zeit des Kommunismus legal und leicht zugänglich, so setzte die einflussreiche katholische Kirche nach Ende des Ostblocks ein weitreichendes Verbot durch: Ein Gesetz von 1993 erlaubte Abtreibung nur noch nach Vergewaltigung, bei Gefahr für das Leben der Mutter und bei schwerer Schädigung des Fötus. Das letzte Kriterium galt bei fast allen der 1100 legalen Abtreibungen in Polen im Jahr 2019 - und wurde nun vom Verfassungsgericht für rechtswidrig erklärt.

Viele Abtreibungen im Untergrund

Die Entscheidung der rechtlich umstrittenen Verfassungsrichter dürfte in der Praxis ein nahezu vollständiges Verbot legaler Abtreibungen nach sich ziehen - doch Abtreibungen nicht beenden. "Es gab Abtreibungen, gibt sie und wird sie weiter geben", kommentierte Marta Lempart von der Organisation "Streik der Frauen", die für ein liberaleres Abtreibungsrecht eintritt, das Gerichtsurteil. Frauenrechtler schätzen die Zahl der Abtreibungen durch Polinnen auf bis zu 150 000 jährlich. Diese finden im Untergrund statt, an ausländischen Kliniken oder zu Hause mithilfe von Medikamenten, die einen Abgang des Fötus auslösen.

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Das Urteil des Verfassungsgerichts folgte einem Antrag von 119 Parlamentsabgeordneten der Regierungskoalition und der rechtsnationalistischen Konföderation. Jegliche Abtreibung verletze das Recht auf Leben, hatten die Parlamentarier und mit ihnen verbündete katholische Aktivisten argumentiert. Der ebenfalls von der PiS kontrollierte Juristische Dienst des polnischen Parlaments hatte argumentiert, das Recht des ungeborenen Kindes auf Leben stehe höher als das einer Frau auf selbstbestimmte Entscheidung über einen Schwangerschaftsabbruch.

Die "Doppelgänger"

Das Verfassungsgericht folgte dieser Linie - eine Entscheidung, die Beobachtern zufolge weniger von den Richtern selbst getroffen worden ist, sondern von PiS-Parteichef Jarosław Kaczyński. Die Zeitung Gazeta Wyborcza fand 2019 heraus, dass sich die durch Rechtsverstöße ins Amt gekommene Verfassungsgerichtspräsidentin Julia Przylębska regelmäßig mit Kaczyński und anderen Regierungsspitzen trifft.

Auch andere Verfassungsrichter - etwa die an der Demontage des Rechtsstaats beteiligten früheren PiS-Parlamentarier Stanisław Piotrowicz und Krystyna Pawlowicz - gelten als nicht unabhängig. Das Urteil vom Donnerstag wurde von Justyn Piskorski entworfen - einem von drei Juristen, die die PiS Ende 2015 rechtswidrig ins Amt hievte, anstelle eines 2015 unter der Vorgängerregierung gewählten Verfassungsrichters. Deswegen nennt man die drei in Polen die "Doppelgänger".

Verfahren, an denen einer der sogenannten Doppelgänger beteiligt ist, betrachten viele Juristen - und auch Polens Bürgerrechtskommissar - als ungültig. Das dürfte auch für das vorliegende Urteil gelten, das mit Stimmenmehrheit der 15 Verfassungsrichter gefällt wurde. Es dürfte vor europäischen Gerichten angefochten werden.

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