Und da steht er dann und weint und kämpft mit sich. Immer wieder setzt Gregor Gysi zum Sprechen an auf dem Podium in der Stadthalle Bielefeld, er nimmt einen Schluck Wasser, versucht es noch einmal, aber die Stimme verweigert den Dienst. "Ich habe viel zu wenig Freundschaften gepflegt, und ich hatte viel zu wenig Zeit für meine Angehörigen", sagt Gysi schließlich. Das habe nicht an den anderen gelegen, sondern daran, dass er sich selbst "einfach zu wichtig" genommen habe. Gysis Kinder, seine Schwester, seine Ex-Frau sitzen da. "Es tut mir sehr, sehr leid", presst er hervor. Da gibt es kein Halten mehr im Saal.
Stadthalle Bielefeld am Sonntag, die Linkspartei hat sich zum Parteitag getroffen und nach 15 Stunden Debatte über dies und das ist passiert, was viele Linke befürchtet haben - und wohl noch mehr bis zuletzt nicht wahrhaben wollten. "Ich werde nicht erneut kandidieren, da die Zeit gekommen ist, den Vorsitz unserer Fraktion in jüngere Hände zu legen", sagt Gregor Gysi. Der dienstälteste Fraktionschef im Bundestag will von Oktober an nicht mehr an der Spitze der Linksfraktion stehen. Gysi steht auch als Spitzenkandidat im nächsten Bundestagswahlkampf nicht mehr zur Verfügung.
Eine Entscheidung ist das, die ein Loch reißt in der Linkspartei, so tief, dass sich gleich zu Beginn von Gysis Rede eine bleierne Stille über den Saal legt. Nur ab zu wird applaudiert, über lange Strecken wirken die Delegierten wie gelähmt. Das dürfte nicht nur an der Bedeutung der Figur Gysi für die Partei liegen. Gysi hat auch den engeren Führungskreis der Linken lange im Glauben gelassen, er mache im Herbst als Fraktionschef weiter, wenigstens bis zur nächsten Bundestagswahl. Auch er selbst schien bis zuletzt zu zaudern, sandte missverständliche Signale aus, tat sich schwer mit diesem Rückzug von einer Laufbahn, der er am Sonntag noch einmal ein großes Historiengemälde widmet.
Regieren, anpacken, das ist die Botschaft des Gregor Gysi
"In den ersten Jahren meiner politischen Tätigkeit begegneten mir fast nur Extreme. Entweder wurde ich geliebt, fast angebetet, oder gehasst", sagt Gysi. "Beides ist sehr anstrengend." Gemeint sind die Jahre, in denen der einstige Rechtsanwalt der DDR mit schweren Stasi-Vorwürfen konfrontiert war und gleichzeitig versuchte, sich und seinen Leuten Respekt zu verschaffen. Seit 1990 sitzt Gysi im Bundestag, wenn auch mit Unterbrechung, als Vormann einer Partei, die erst PDS und dann Linkspartei hieß. "Hass und Ablehnung" habe er in jenen Jahren gespürt und nie vergessen, welche Journalisten gegen ihn "ermittelt" hätten.
Inzwischen aber habe sich das gründlich geändert. "Die gesellschaftliche Akzeptanz, die wir inzwischen erreicht haben, ist über viele Jahre gewachsen", findet Gysi. Dass die Linke im Land selbstverständlich geworden sei und "kaum noch aus dem Bundestag wegzudenken", solle sie selbstbewusster machen. Nach so viel Lob für die eigene Sache, kommt dann die Mahnung zu mehr Engagement. "Wir können und sollten auch auf Bundesebene regieren wollen, und zwar selbstbewusst, mit Kompromissen, aber ohne falsche Zugeständnisse", sagt Gysi - wohl wissend, dass mancher in der Führungsriege der Linken und noch mehr von denen, die unten im Saal sitzen, da ganz anderer Ansicht sind. Die Linke könne zwar nicht jeden Bundeswehr-Soldaten zurückbeordern, aber dafür sorgen, dass sich Deutschland nicht an Kriegen wie denen in Jugoslawien oder Afghanistan beteilige. Wenn es der Linken gelänge, im Verhältnis zu Russland zu einer Deeskalation beizutragen, für mehr Steuergerechtigkeit, eine grundsätzliche Reform der Renten, auch für Homo-Ehe und Bildungsgerechtigkeit - "was für ein gewaltiger Fortschritt wäre das?", fragt Gysi.
Regieren, anpacken, das ist die Botschaft des Gregor Gysi, doch nicht um den Preis des Identitätsverlusts. Der Parteitag allerdings hat da ganz andere Signale ausgesandt. Sahra Wagenknecht etwa, die Einheizerin vom linken Flügel, sieht die Regierungsfrage ganz anders. Die Linke dürfe für ein rot-rot-grünes Bündnis im Bund ihre Grundsätze nicht über Bord werfen, sagt sie in ihrer Parteitagsrede. Es falle ihr schwer, sich einen Mann wie SPD-Chef Sigmar Gabriel, der "seit Monaten die Öffentlichkeit belügt und für dumm verkauft", als künftigen Regierungspartner vorzustellen. "Die Linke ist sicher nicht gegründet worden, um in dieser trüben Brühe mitzuschwimmen", ruft Wagenknecht. Da juchzt der Saal, eine rote Fahne wird geschwenkt, Delegierte rufen "Bravo!" - eine unmissverständliche Aufforderung an sie, die Erbfolge von Gregor Gysi anzutreten. Wagenknecht hatte eigentlich im März gesagt, sie stehe für den Fraktionsvorsitz nicht zur Verfügung. Inzwischen überlegt sie, doch zu kandidieren. Die 45-Jährige will zunächst eine Empfehlung des Geschäftsführenden Parteivorstands für die Fraktionsspitze im Bundestag abwarten. Dass sie mit dem Reformer Dietmar Bartsch Gysi nachfolgt, gilt derzeit als wahrscheinlichstes Szenario.
Als der Bielefelder Abschiedsparteitag in die Zielgerade geht, stehen die Delegierten auf und klatschen und klatschen, es dauert an die zehn Minuten. Gregor Gysi winkt, verbeugt sich immer wieder. Dann taucht er weg. Ein kleiner Herr, der sich auf den Heimweg gemacht hat.