Das Politische Buch:Als moralische Instanz versagt

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Stets gut informiert: Papst Pius XII empfängt eine Delegation der Katholischen Jugend im Vatikan. (Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

David Kertzer hat als einer der Ersten in den nun geöffneten Geheimarchiven des Vatikans geforscht. Seine Erkenntnisse über Papst Pius XII., dessen Wissen über den Holocaust und sein Schweigen, müssten eigentlich harte Konsequenzen haben.

Rezension von René Schlott

Als der Vatikan im März 2020 die Akten aus dem langen Pontifikat von Papst Pius XII. öffnete, war mit Spannung erwartet worden, welche neuen Erkenntnisse über die päpstliche Politik im Zweiten Weltkrieg die Dokumente bergen würden. Experten war jedoch von Anfang an klar, dass allenfalls neue Details aus den zehntausenden erstmals zugänglichen Papieren, jedoch keine bahnbrechenden Erschütterungen des grundlegenden Wissens um die Rolle des Vatikans angesichts des Holocausts zu erwarten gewesen waren.

Denn an zwei historischen Tatsachen würden auch noch so viele Aktenfunde nichts ändern: Erstens hat der Papst, der von 1939 bis 1958 an der Spitze der katholischen Kirche stand, nie laut und deutlich die Vernichtung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland verurteilt und ein sofortiges Ende des Mordprogramms gefordert. Und zweitens hat Pius XII. trotz vielfachen, auch innenkirchlichen Drängens selbst dann nicht eingegriffen, als die jüdischen Einwohner der Stadt Rom im Oktober 1943 von den deutschen Besatzern zusammengetrieben und in unmittelbarer Nähe des Papstpalastes (unter seinen "Fenstern", so der damalige deutsche Vatikan-Botschafter Ernst von Weizsäcker) für fast drei Tage unter erbärmlichsten Umständen festgehalten worden waren, bevor die meisten von ihnen nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurden - unter ihnen mehr als 100 Kinder.

Nach der seit Jahren erwarteten vatikanischen Öffnung der Archive zum Pontifikat des wohl umstrittensten Papsts des 20. Jahrhunderts war zudem mit einer Flut neuer Bücher zu rechnen, von denen nun das Werk des US-Amerikaners David Kertzer den Auftakt macht. Kertzer, Professor an der Brown University in Providence im US-Bundesstaat Rhode Island, Experte für die Geschichte Italiens und Autor von einem Dutzend thematisch einschlägiger Monographien, hatte zuletzt mit einem Werk zum Vorgänger von Pius XII. Aufsehen erregt: "The Pope and Mussolini: The Secret History of Pius XI. and the Rise of Facism in Europe" wurde 2015 mit dem renommierten Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Ein Jahr darauf erschien das 600 Seiten-Buch unter dem auf Rolf Hochhuths berühmten Theatertext anspielenden Titel "Der erste Stellvertreter" in deutscher Übersetzung.

Ein Geschichtsschmöker im besten Sinne

Das neue Buch ("Der Papst, der schwieg") wartet noch einmal mit 100 Seiten mehr auf, ist aber wie sein Vorgänger ein Geschichtswälzer, in dem sich gut schmökern lässt, und das ist nicht so despektierlich gemeint, wie es sich vielleicht anhören mag. Denn aus den meist drögen Akten und aus den nicht immer leicht zu entschlüsselnden, oft verklausulierten Dokumenten, in denen eine Menge "zwischen den Zeilen" steht, eine spannend, erzählte Geschichte zu generieren und aufzuschreiben, ist eine Kunst für sich, die nur wenige beherrschen.

Hierzulande gehört dazu Hubert Wolf, der Münsteraner Kirchenhistoriker, der die katholische Kirchengeschichte der Neuzeit regelmäßig auf die Bestsellerlisten führt, und der wie Kertzer, mit seinem Team einer der Ersten war, die Anfang März 2020 sofort nach der Öffnung der Akten zum Pontifikat Pius XII. mit deren Sichtung begannen und zeitnah erste Ergebnisse veröffentlichten. Wolf stieß auf zahlreiche, bislang unbekannte Bittschreiben verfolgter Juden aus ganz Europa, die sich an den Vatikan und teils direkt an Pius XII. mit der Bitte um Hilfe wandten. Wolf schätzt die Zahl dieser Briefe, von denen viele unbeantwortet blieben, auf gut 15 000. Bei Kertzer spielen diese Bittschreiben fast keine Rolle. Er macht aber anhand anderer Dokumente klar, dass Pius XII. über das Schicksal der europäischen Juden stets gut unterrichtet war und ihn sogar detaillierte Berichte über Massaker an der jüdischen Bevölkerung im Osten Europas erreichten. Er aber schwieg aus kühler Berechnung, nach eigener Aussage "ad maiora mala vitanda" - um noch Schlimmeres zu verhindern.

Die Polen nannten es "Verbrechen des Schweigens"

Schon als die Deutschen nach dem Überfall auf Polen im September 1939 mit der Verfolgung polnischer Priester und Ordensleute begannen, konnte sich der Papst in Kenntnis der deutschen Kriegsverbrechen und trotz des Drängens polnischer Diplomaten und Kirchenvertreter nicht zu einer eindeutigen öffentlichen Stellungnahme zugunsten des bedrängten erzkatholischen Landes durchringen. Ein polnischer Priester schrieb dem Pontifex, seine Landsleute könnten sich dieses "Verbrechen des Schweigens" nicht erklären.

Wie Kertzer aus den neu zugänglichen Akten herausarbeitet, blieb Pius XII. dagegen über einen geheimen Gesprächskanal, von dem nicht einmal der deutsche Vatikan-Botschafter wusste, auch nach dem Beginn des Krieges gegen Polen mit Hitler im Gespräch. Als Mittelsmann zwischen Papst und "Führer" agierte dabei der deutsche Adlige Philipp von Hessen (1896-1980), der mit einer Tochter des italienischen Königs verheiratet war und im Auftrag Hitlers zwischen Berlin und Rom pendelte. Der "Nazi-Prinz", wie Kertzer ihn nennt, Mitglied der NSDAP und der SA und seit 1933 Oberpräsident der Provinz Hessen-Nassau, trug im Vatikan den Decknamen "Marquis Turri" und traf am 11. Mai 1939, nur wenige Wochen nach der Wahl von Eugenio Pacelli zu Pius XII., erstmals mit dem neuen Papst zusammen, und zwar ganz gegen das Protokoll unter konspirativen Umständen informell in der Privatwohnung des Kardinalstaatssekretärs im Vatikan.

Der heimliche Vermittler: Prinz Philipp von Hessen (links) in SA-Uniform und Hermann Göring im Jahr 1933. (Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

Während sein Vorgänger Pius XI. (1922-1939) den Nationalsozialismus im März 1937 in der Enzyklika "Mit brennender Sorge" noch verurteilt hatte, strebten Hitler und Pius XII. ein "Versöhnungsabkommen" an. Mehrfach trafen der Prinz und Pius XII. dafür zu geheimen Konsultationen zusammen, zuletzt im April 1941, bevor Philipp von Hessen bei Hitler in Ungnade fiel und der Gesprächsfaden abriss.

Abweichungen zwischen Akten und der offiziellen Edition

Eine ähnlich konziliante Politik verfolgte Pius XII. auch gegenüber dem "geliebten Sohn" Mussolini, wie Pius XII. den Duce in Briefen ansprach, und kam dessen Zensurwünschen gegenüber der Vatikanzeitung Osservatore Romano stets nach. Der Papst wollte die "faschistische Dreieinigkeit aus Kirche, Monarchie und Duce" keinesfalls gefährden. Kertzer präsentiert weitere interessante Details aus den Vatikanakten, etwa Abweichungen zwischen der offiziellen Aktenedition des Vatikans zum Zweiten Weltkrieg aus den 1960er-Jahren und den Originaldokumenten, die jetzt erstmals einsehbar sind. Aus ihnen gehen rassistische und antisemitische Vorurteile (O-Ton Oktober 1942: "denn auch zur Übertreibung neigen die Juden") hoher Vatikanbeamter hervor. Ohnehin setzte sich der Vatikan, wenn überhaupt, nur für zum Katholizismus konvertierte Juden ein.

Kertzer erzählt nicht nur die Geschichte des Pius-Pontifikats, sondern rollt vor einem internationalen Panorama auch den Kriegsverlauf auf, befasst sich mit der innenpolitischen Entwicklung Italiens und widmet sich insbesondere dem Verhältnis von "Drittem Reich" und Italien und der Beziehung zwischen Mussolini und Hitler und liefert so interessante Charakterstudien, etwa der Mussolini-Geliebten Clara Petacci und des Außenministers Galeazzo Ciano. Das Buch liest sich spannend wie ein historischer Roman - allerdings im Unterschied zu diesem unterfüttert mit mehr als 100 Seiten detaillierter Anmerkungen und akribischer Quellennachweise.

Eifriger Briefeschreiber und -leser, aber öffentlich sagte er nichts zu den NS-Verbrechen: Papst Pius XII. auf einem undatierten Foto. (Foto: Ettore Ferrari/dpa)

Nach der Lektüre von Kertzers voluminösem Werk, das bereits im Mai 2022 auch in einer italienischen Ausgabe erschienen ist, liegt eine unmittelbare Konsequenz nahe: Der Vatikan sollte das seit 1974 laufende Seligsprechungsverfahren für Pius XII. für beendet erklären, und der amtierende Papst sollte diese Gelegenheit für das Eingeständnis der Fehlbarkeit seines Vorgängers nutzen.

Die Kirche blieb unbeschadet, aber zu welchem Preis?

Pius XII. mag die katholische Kirche als politische Institution äußerlich unbeschadet durch den Krieg geführt haben, und sogar Kertzer räumt ein, dass man dies als "Erfolg" seines Pontifikats werten könne. Am päpstlichen Anspruch als weltweit anerkannte moralische Instanz gemessen, aber ist er auf ganzer Linie gescheitert. Ein Papst, der "urbi et orbi", in der Ewigen Stadt und im Weltkreis, Autorität über alle Menschen guten Willens beanspruchte, und es in Kenntnis des tausendfachen Mordens, teils aus erster Hand, nicht fertigbrachte, die katholischen Mörder jemals laut und deutlich und nicht etwa verklausuliert mit dem einfachen Wortlaut des fünften Gebotes - "Du sollst nicht töten" - an das christliche Imperativ der Nächstenliebe zu erinnern, hat vor der Geschichte versagt. Kertzer hat mit seinem Buch für dieses harte Urteil noch einmal eine erdrückende Zahl an Beweisen vorgelegt.

David I. Kertzer: Der Papst, der schwieg. Die geheime Geschichte von Pius XII., Mussolini und Hitler. Aus dem Englischen von Tobias Gabel und Martin Richter. wbg Theiss, Darmstadt 2023. 704 Seiten, 39 Euro. E-Book: 31,99 Euro. (Foto: wbg Theiss)
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