Flucht und Migration:"Der Kanzler sollte das richtigstellen"

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Reisebusse gelten in der aktuellen Debatte allzu oft als Maß für staatliche Zuweisungen weiterer Geflüchteter an die einzelnen Landkreise. (Foto: Boris Roessler/dpa)

Ende Juni sagte Olaf Scholz, 80 Prozent der Geflüchteten, die in Deutschland ankommen, seien unregistriert durch andere Länder gereist. Doch stimmt diese Aussage überhaupt?

Von Tim Frehler

Die Zahl der Asylsuchenden, die unregistriert durch andere Länder der Europäischen Union nach Deutschland eingereist sind, dürfte deutlich niedriger sein als bislang angenommen. Das zeigt eine Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linken-Bundestagsabgeordneten Clara Bünger. Sie liegt der Süddeutschen Zeitung vor.

Demnach gab es im vergangenen Jahr 217 774 Erstanträge auf Asyl in Deutschland. Zu 49 834 dieser Anträge fanden die Behörden Treffer im sogenannten Eurodac-System. Das ist eine Datenbank der Europäischen Union, in der Fingerabdrücke von Asylsuchenden sowie von Staatsbürgern aus Nicht-EU-Ländern gespeichert werden, um sie zwischen den Mitgliedsstaaten auszutauschen. Gemäß den Regeln des Dublin-Verfahrens ist jener EU-Staat für einen Flüchtling verantwortlich, in dem dieser die Europäische Union zuerst betreten hat. Um diese Zuständigkeit zu klären und um zu verhindern, dass Flüchtlinge in mehreren Staaten Anträge stellen, müssen die Staaten die Fingerabdrücke von allen Personen festhalten, die in ihrem Land Asyl beantragen. Wenn deutsche Behörden bei der Prüfung von Asylanträgen also einen Treffer in der Eurodac-Datenbank finden, bedeutet das: Die Person ist schon in einem anderen Land registriert worden - und kann dorthin zurückgeschickt werden.

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Seit Jahren gibt es Zweifel am System, das liegt auch am Verhalten südlicher EU-Länder

Schon seit Jahren gibt es Zweifel an diesem System, auch weil südliche EU-Länder Flüchtlinge ohne Registrierung weiterziehen lassen. In diesem Kontext bezeichnete Bundeskanzler Olaf Scholz das europäische Asylsystem Ende Juni als "völlig absurd". In einem Fernsehinterview sagte er: "80 Prozent der Flüchtlinge, die in Deutschland ankommen - und da meine ich jetzt nicht die ukrainischen Flüchtlinge, sondern die übrigen -, sind nicht registriert."

Dass der Kanzler sich dabei auf das "Verhältnis zwischen der Anzahl der Asylerstanträge im Jahr 2022 (217 774) und der Zahl der Eurodac-Treffer im Jahr 2022 (49 834)" bezieht, zeigt die Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage der Abgeordneten Bünger. Auf den ersten Blick stimmt die Gleichung auch - zumindest ungefähr: Rechnet man das Verhältnis von Asylerstanträgen zu Eurodac-Treffern im Jahr 2022 aus, ergibt sich: Für etwa 77 Prozent der Anträge gibt es keinen Treffer in der Datenbank.

Wie nun aus der Antwort der Bundesregierung hervorgeht, liegt das aber weniger daran, dass die Menschen unregistriert durch Europa gereist sind, sondern vielmehr daran, dass es sich bei ihnen um Personen handelt, für die gar kein Treffer in der Datenbank zu erwarten ist. So entfielen etwa im vergangenen Jahr knapp zehn Prozent (24 791) aller 244 132 Asylanträge auf Kinder, die in Deutschland geboren wurden. 29 840 Menschen reisten mit einem Visum ein, wie es etwa bei einem Familiennachzug der Fall ist. 27 852 Personen kamen visafrei nach Deutschland. Und bei 72 384 Antragstellenden handelt es sich um Kinder. Sie werden nicht per Fingerabdruck im Eurodac-System registriert, es ist also unklar, wie viele von ihnen unerlaubt über andere EU-Staaten eingereist sind.

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Es gebe in der Asyldebatte viele Fehlinformationen, kritisiert die Linken-Abgeordnete Bünger. Besonders schlimm sei dies aber, wenn der Bundeskanzler "persönlich falsche Zahlen" verbreite: "Es ist eben nicht so, dass 80 Prozent der Asylsuchenden in Deutschland in einem anderen EU-Land mit einem Asylantrag hätten registriert werden müssen. Nach den Angaben der Bundesregierung sind es vermutlich nicht einmal die Hälfte dieser Größenordnung", sagt Bünger. "Der Kanzler sollte das öffentlich richtigstellen."

Wenn bei der Prüfung von Asylanträgen Anhaltspunkte dafür bestehen, dass ein anderer Mitgliedstaat für das Verfahren verantwortlich ist, wird der Asylbewerber dorthin überstellt. Laut Antwort der Bundesregierung gab es bis Ende August dieses Jahres 3371 Überstellungen in andere Mitgliedstaaten. Im gesamten Zeitraum des Vorjahres waren es 4158. Bis Ende August 2023 scheiterten jedoch 24 192 fristgerechte Überstellungen. Laut der Linken-Fraktion liegen nun erstmals genauere Angaben zu den Ursachen hierfür vor. Demnach lag es in den meisten Fällen (5296) am aufnehmenden Mitgliedstaat. Auf Platz zwei (5060) folgen die ausführenden Ausländerbehörden. In 2964 Fällen waren die Personen "untergetaucht", Rang drei. 2307 Mal war es "Organisatorisches", das die Überstellung verhinderte. Und 2151 Mal wurde die Person "nicht angetroffen".

Es sei absurd, das "im Kern ungerechte und unmenschliche Dublin-System" weiter durchzusetzen, sagt Bünger. Es brauche stattdessen "ein grundlegend anderes, solidarisches System", so die Linken-Politikerin.

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