Großbritannien:Oberste Richter stufen Abschiebung nach Ruanda als rechtswidrig ein

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"Hände Weg von Afrika": Eine Demonstrantin vor dem Obersten Gerichtshof in London, der am Mittwoch darüber entschied, ob die Regierung ihren umstrittenen Plan fortsetzen kann, Migranten nach Ruanda abzuschieben. (Foto: Kirsty Wigglesworth/dpa)

Der Supreme Court in London bestätigt, dass die britische Regierung keine Flüchtlinge nach Ruanda ausfliegen darf. Premier Sunak gerät unter Druck und will die Flüge nun per "Notfall-Gesetz" durchsetzen.

Von Michael Neudecker, London

Dieser Mittwoch hatte mehrere Schauplätze, wie so oft, wenn sich in der britischen Politik mal wieder die Ereignisse überschlagen; manches passierte gleichzeitig, und alles hing mit allem zusammen. Der Tag begann im schlosshaften Gebäude des Supreme Court am Parliament Square in der Londoner Innenstadt. Der Oberste Richter Lord Reed verlas, worauf mindestens ganz Westminster wartete: das Urteil in der Frage, ob die Regierung Flüchtlinge nach Ruanda ausweisen darf.

Der Rechtsstreit begann vor etwa eineinhalb Jahren, als die Tory-Regierung ein Abkommen mit der ruandischen Regierung schloss, und zwar zu einem stolzen Preis: Umgerechnet knapp 150 Millionen Euro überwies London nach Kigali, darüber hinaus sagten die Briten zu, für jeden ausgeflogenen Flüchtling weitere knapp 14 000 Euro zu bezahlen. Die britischen Medien haben pedantisch nachgezählt, wie lange genau der Streit läuft. Am Mittwoch war Tag 580.

Die fünf Richter urteilten einstimmig

Zunächst hatte der High Court das Vorgehen gebilligt, ehe das Berufungsgericht wegen Sicherheitsbedenken in Ruanda dagegen urteilte, womit der Fall beim Supreme Court landete, der letzten Instanz. Auf Seite 56, unter Punkt 149 stand in dem am Mittwoch verlesenen Urteil unmissverständlich, zu welchem Schluss die fünf Richter gekommen sind, und zwar, wie Lord Reed sagte, einstimmig: Das Urteil des Berufungsgerichts war korrekt. Die von der britischen Regierung geplante Vorgehensweise sei "rechtswidrig". Es gebe Grund zur Annahme, dass Flüchtlinge von Ruanda aus einfach in ihr Ausgangsland zurückgeschickt würden, außerdem sei ihre Sicherheit nicht gewährleistet.

Ein paar Hundert Meter weiter, im Palace of Westminster, fand ebenfalls am Mittwochvormittag in einem der zahllosen Räume des Parlamentsgebäudes ein Treffen der "New Conservatives" statt, einer Gruppierung von Abgeordneten des rechten Parteiflügels. Der rechte Flügel ist seit dieser Woche um ein so prominentes wie ungehemmtes Mitglied reicher, seit Sunak am Montag die Innenministerin Suella Braverman entließ. Braverman hatte am Dienstagabend ihren dreiseitigen Rücktrittsbrief veröffentlicht, in dem sie Sunak, kurz gesagt, persönliches Versagen vorwarf. Den Brief als persönliche Abrechnung zu bezeichnen, wäre untertrieben.

Ein Aufruf, die eigenen Gerichte zu ignorieren

Danny Kruger, der Chef der New Conservatives, sagte nach dem Treffen und kurz vor den wöchentlichen "Prime Minister's Questions" im Unterhaus, man erwarte von Sunak, dass er nun entweder die nationale Gesetzgebung ändere oder dafür sorge, dass das Vereinigte Königreich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention austrete. Noch deutlicher wurde Lee Anderson, der stellvertretende Generalsekretär der Tories. "Wir sollten jetzt einfach die Flugzeuge in die Luft bringen und Stärke zeigen". Er finde, "wir sollten die Gesetze ignorieren und sie (die Flüchtlinge , Anm. d. Red.) noch heute rüberschicken".

Ein Mitglied der britischen Regierung - noch dazu eines mit einer offiziellen Führungsrolle -, das verlangt, die Rechtsprechung der eigenen Gerichte zu ignorieren? Am Mittwochnachmittag musste Sunaks Regierungssprecher die Frage beantworten, ob Anderson noch im Amt sei: Ja, sei er, selbstverständlich.

Das Urteil sei "nicht das, was wir uns gewünscht hätten", sagte Sunak selbst im Unterhaus, aber es gebe keinen Grund, nicht am Ruanda-Plan festzuhalten. Er sei bereit, "nationale Gesetze und internationale Beziehungen zu überdenken". Der neue Innenminister James Cleverly sagte später allerdings, man werde "nur für politische Zwecke nicht einen unnötigen Streit erschaffen". Zunächst werde an einem neuen Vertrag mit Ruanda gearbeitet, in dem die Bedenken des Supreme Court berücksichtigt werden sollten. Der neue Vertrag werde in den kommenden Tagen dem Unterhaus vorgelegt.

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In Downing Street dann sagte Sunak in einer Pressekonferenz am Abend, Ruanda werde von der britischen Regierung weiterhin als sicheres Drittland betrachtet. Er werde "nicht zulassen, dass internationale Gerichte die Flüge nach Ruanda aufhalten", weshalb er ein "Notfall-Gesetz" einbringen werde, wobei er nicht näher darauf einging, wie so ein Gesetz aussehen soll, oder wann es dem Unterhaus vorgeschlagen werden könnte.

Ob das dem rechten Parteiflügel der Tories genügt, bleibt abzuwarten. Wiederum in einem anderen Raum trafen sich am Mittwochabend die Mitglieder des 1922-Komitees der Tory-"Backbencher", um das weitere Vorgehen zu diskutieren. Mindestens sieben von ihnen haben, wie die Abgeordnete Andrea Jenkyns dem TV-Sender GB News sagte, Misstrauensbriefe gegen Sunak eingereicht.

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