Zeitgeschichte:Das Vermächtnis von Saal 600

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Während des Prozesses, 1946: Hermann Göring sagt aus. Das Mobiliar des Saals ist später von der deutschen Justiz vernichtet worden. (Foto: SZ Photo)

Vor 75 Jahren begannen in Nürnberg die Prozesse gegen die NS-Kriegsverbrecher. Der Gerichtssaal soll nun Weltkulturerbe werden.

Von Olaf Przybilla, Nürnberg

Benjamin Ferencz wird diesmal nur mit einem digitalen Grußwort an den Feierlichkeiten teilnehmen können, mehr lässt die Pandemie nicht zu. Wer erlebt hat, wie der ehemalige Chefankläger im Nürnberger SS-Einsatzgruppenprozess vor zehn Jahren als damals 90-Jähriger durch den Saal 600 geleitet hat, der ahnt, wie schwer ihm das fallen muss. Vor 75 Jahren, am 20. November 1945, haben in jenem Saal die Nürnberger Prozesse begonnen, mit denen Rechtsgeschichte geschrieben werden sollte. Benjamin Ferencz, der im damals ungarischen Siebenbürgen geborene US-Jurist, war ein wesentlicher Teil davon.

Noch 2010 hat er davon so erzählt, als wären seit den Prozessen erst ein paar Wochen vergangen. Dort drüben, an der Stelle im Saal 600, wo die Knöpfe in die Wand eingelassen sind, hatte Ferencz den SS-Mann und Hauptangeklagten in einem der zwölf Nachfolgeprozesse, Otto Ohlendorf, einmal kurz angesprochen. Als Ankläger hatte er zuvor vermieden, mit Angeklagten ein persönliches Wort zu wechseln. Als Ohlendorf aber 1948 zum Tod verurteilt war und vor dem Saalaufzug stand, da brach Ferencz mit diesem Vorsatz kurz. "Mister Ohlendorf, haben Sie mir noch irgendwas zu sagen?", fragte er ihn. Eine Botschaft an dessen Kinder hatte er sich vom Angeklagten erwartet, ein Wort womöglich an dessen Ehefrau, einfach etwas, das bleiben sollte vom Menschen Otto Ohlendorf. Der aber antwortete: "Sie werden sehen, dass ich recht hatte." Auf der Anklagebank hatte der SS-Mann seine Morde damit gerechtfertigt, Juden hätten eine Verschwörung gegen das Deutsche Reich geplant, auch jüdische Kinder.

Göring über seinen Komplizen Ohlendorf: "Was erwartet das Schwein?"

Im Prozess gegen die NS-Hauptkriegsverbrecher war Ohlendorf im Jahr 1946 als Zeuge aufgetreten, im "Memorium Nürnberger Prozesse" kann man heute seine Aussagen anhören - wenn das Museum nicht gerade pandemiebedingt geschlossen ist. Im Dachgeschoss über dem Saal 600 ist eine kaum zählbare Anzahl verstörender Aussagen dokumentiert. Der emotionslose Vortrag des SS-Manns aber, der seine Aufgabe schildert, in den von Hitler eroberten Gebieten Juden zu vernichten, darf als einer der abgründigsten Momente gelten. Für den Tod von 90 000 Menschen war Ohlendorf verantwortlich. Über seine Zeugenaussage soll sich Göring mit den Worten ereifert haben: "Was erwartet das Schwein? Er wird sowieso hängen!" In dem Punkt immerhin sollte Göring recht behalten.

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Als Ankläger im Prozess gegen die SS-Einsatzgruppen war der gerade mal 27 Jahre alte Jurist Ferencz aus New York in Erscheinung getreten, ein Mann von höchst überschaubarer Statur und schier unglaublichem Redetalent. Was er dem SS-Mann am Gerichtsaufzug geantwortet hat? "Ich habe ihm gesagt: Okay, danke Mister Ohlendorf." Dann habe der Wachmann die Aufzugtür geöffnet. Das Nächste, was er von Ohlendorf gesehen habe, "war ein Bild von ihm am Galgen", 1951. Mit den Worten "Make law - not war" hat sich Ferencz vor zehn Jahren aus Nürnberg verabschiedet.

Das historische Mobiliar ist von der deutschen Justiz vernichtet worden

Seither hat sich am Saal 600 einiges geändert, aber längst nicht so viel wie von der Stadt ursprünglich geplant. Würde Ferencz, der im März 100 Jahre alt geworden ist, an diesem Freitag auch persönlich beim Festakt sein, so würde er in einem seit 1961 weithin unveränderten Saal Platz nehmen. Dabei hatten viele gehofft, man würde im Jahr des 75. Jubiläums bereits auf jene multimediale Präsentation zurückgreifen können, mit der Besucher den Saal künftig so erleben sollen, wie dieser 1945 zu Beginn der Prozesse ausgesehen hat. Die Richterbänke standen zu der Zeit an der Fensterfront, auch gab es Zusatztribünen. Als die Alliierten den Saal an das Oberlandesgericht zurückgaben, räumten dessen Juristen erst mal gründlich auf und vernichteten Mobiliar - eine Folge offenbar der heute kaum noch vorstellbaren Nachkriegsvorbehalte gegen alliierte "Siegerjustiz". Gerade mal zwei Holzbänke aus der Zeit von Benjamin Ferencz haben die Sechzigerjahre überlebt, sie sind Teil des Memoriums im Stockwerk oberhalb des Saals. Das Holzkreuz über der Richterbank dagegen kennt Ferencz lediglich aus der Zeit seiner späteren Besuche in Nürnberg - als er Ankläger war, hing das dort noch nicht.

Diesen Saal kennt die Welt. Die Stadt Nürnberg aber kennt so richtig nicht jeder. Auch wenn man nur 160 Kilometer entfernt lebt. (Foto: Christine Dierenbach/obs)

Vorangekommen ist die Stadt trotzdem in einem wesentlichen Punkt: Vor neun Monaten ist das letzte Urteil im wohl berühmtesten Gerichtssaal der Welt gesprochen worden. Seit den Sechzigerjahren diente der Saal 600 der Nürnberger Justiz, um dort über Kapitalverbrechen zu verhandeln und Prozesse mit vielen Beteiligten über die Bühne zu bringen. Spätestens seit der Eröffnung des Memoriums aber häuften sich die Beschwerden von Besuchern, die sich wegen laufender Verfahren nicht im Schwurgerichtssaal 600 bewegen, geschweige denn dort fotografieren konnten. Besonders peinlich war der Besuch von Völkerrechtsstudenten, die einige Tausend Kilometer angereist waren nach Nürnberg - ohne den Saal am Ende betreten zu haben.

"Ohne Nürnberg kein Den Haag", sagt ein Historiker

Dank eines Neubaus am Justizpalast kann so etwas nicht mehr passieren; dort finden nun die großen Prozesse statt. Zum "lebendigen Erinnerungsort" per medialer Präsentation ist der Saal trotzdem nicht geworden, Stadt, Land und Bund ringen noch um die Finanzierung. Wäre schön, sagt der kommissarische Memoriumsleiter Florian Dierl, wenn die Verantwortlichen da "in die Gänge kommen würden". Auch für eine anstehende Bewerbung wäre das wichtig, immerhin will das Land Bayern, dass die Unesco den Saal 600 im Jahr 2024 zum Weltkulturerbe erhebt. Für den Historiker Siegfried Zelnhefer ist das nachvollziehbar. Der Saal gilt als Wiege des modernen Völkerstrafrechts, "ohne Nürnberg kein Den Haag", sagt er.

Benjamin Ferencz hatte Deutschland nach den Nürnberger Prozessen wieder verlassen, ohne "einmal das Wort ,Entschuldigung' gehört zu haben". Das sei für ihn damals das Schlimmste gewesen. Für das Vermächtnis von Nürnberg hält er die Ächtung des Angriffskrieges. Auch habe Nürnberg "das Fundament für einen Tempel des internationalen Rechts" gelegt. Nur fertig bauen müsse man diesen jetzt noch.

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W.E.Süskind und Birgit Kruse (Digitale Umsetzung)

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