In diesem Frühjahr werden 73 Jahre vergangen sein, seitdem alliierte Truppen die Niederlande befreiten. Es gibt auch dort nicht mehr viele Menschen, die sich noch bewusst an die vorangegangenen Jahre der deutschen Besatzung erinnern können. Aber nahezu in jeder Familie gibt es heute noch schmerzliche Erinnerungen an Leid und Verlust, die mit dem Zweiten Weltkrieg in Verbindung stehen.
Die in Freiburg lehrende Zeithistorikerin Katja Happe hat nun eine erste umfassende Studie in deutscher Sprache zur Geschichte der Judenverfolgung in den Niederlanden während der Jahre 1940 bis 1945 vorgelegt. Sie konnte dafür auf das in mehr als sieben Jahrzehnten angesammelte Wissen sowohl über den Völkermord an den Juden Europas insgesamt wie über die spezifische Geschichte der Juden in den Niederlanden zurückgreifen.
75 Prozent der Juden fielen dem Holocaust zum Opfer, mehr als in jedem westeuropäischen Land
In neun chronologisch aufeinanderfolgenden Kapiteln schildert sie das Schicksal der Juden, die entweder holländische Staatsbürger waren oder jüdische Flüchtlinge, die nach 1933 aus Deutschland und Österreich nach Holland geflohen waren, um der Verfolgung durch den nationalsozialistischen Staat zu entgehen. Im Zentrum ihrer Untersuchung steht die Frage, warum der Anteil der Juden in Holland, die ermordet wurden, so viel höher war als der in anderen westeuropäischen Ländern. Mit mehr als 100 000 Menschen fielen 75 Prozent der in den Niederlanden lebenden Juden dem deutschen Vernichtungsprogramm zum Opfer, während von den etwa 320 000 zum gleichen Zeitpunkt in Frankreich lebenden Juden trotz der Kollaborationsregierung von Vichy nur etwa 76 000 Juden ermordet wurden.
Katja Happe bezieht alle Akteure ein, die eine Rolle in der Katastrophe spielten: Die Opfer, die nach dem deutschen Einmarsch im Mai 1940 in Holland in der Falle saßen, die holländische Mehrheitsgesellschaft und ihre Institutionen, das holländische Königshaus und seine Regierung im Londoner Exil, jüdische Hilfsorganisationen innerhalb und außerhalb des Landes und die deutsche Regierung mit ihren Handlangern in Holland, die den Mord planten und durchführten. Sie entwickelt ein stringentes Bild der Lebensbedingungen für Juden in den Niederlanden auf dem Weg zu ihrer Ermordung. Zunächst konnten sich nach 1933 noch Tausende jüdische Flüchtlinge aus Deutschland relativ problemlos in Holland niederlassen. Zu ihnen gehört auch Anne Frank und ihre Familie, die nach dem Krieg durch ihr Tagebuch über ihr Leben im Versteck vor der Deportation weltweit zur Ikone des Schicksals der Juden in den Niederlanden wurde.
Im Mai 1938 verhängten die niederländischen Behörden ein Einreiseverbot für jüdische Flüchtlinge, das nach dem 9. November 1938 wieder gelockert wurde. Für die Neuankommenden wurde im Oktober 1938 im Nordosten Hollands im Auftrag der Regierung das "Zentrale Flüchtlingslager Westerbork" errichtet. Wenige Jahre später wurde Westerbork das größte Internierungslager im Land und als "polizeiliches Durchgangslager" der Abfahrtsort für die Züge in die Vernichtungslager. Bis 1939 waren etwa 50 000 jüdische Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich in die Niederlande entkommen. Etwa die Hälfte von ihnen konnte das Land verlassen, bevor es im Mai 1940 unter deutsche Herrschaft fiel.
Nach dem Einmarsch der Wehrmacht am 10. Mai 1940 und der bereits fünf Tage später folgenden Kapitulation errichteten die Deutschen eine Zivilregierung unter Reichskommissar Arthur Seyß-Inquart. Außer dem Judenmord planten die Deutschen die Invasion Englands von Holland aus, die Einbeziehung der nichtjüdischen Bevölkerung in ihre völkische Utopie, die sie "Selbstnazifizierung" nannten, und die Ausbeutung der Ressourcen des Landes für die deutsche Kriegsindustrie. Von Herbst 1940 an begannen Entrechtung und Isolierung der Juden in Holland, von denen viele Selbstmord begingen oder verzweifelt, aber zumeist vergeblich, versuchten, in den unbesetzten Teil Frankreichs oder nach England zu entkommen. Für die niederländische Mehrheitsgesellschaft änderte sich zunächst nichts Grundsätzliches, die holländischen Behörden waren von Anfang an bereit, "loyal" mit den Besatzern zusammenzuarbeiten. Als im Februar 1941 nach einem Zwischenfall 400 Juden im Alter von 20 bis 35 Jahren verhaftet und in ein deutsches KZ deportiert wurden - so gut wie keiner von ihnen überlebte - reagierte die holländische Arbeiterschaft als Zeichen der Solidarität mit einem zweitägigen Generalstreik. Es folgten Verhaftungen und Verurteilungen und weitere antijüdischen Maßnahmen.
Im Sommer 1941 entstanden zwei jüdische Organisationen sowie der "Jüdische Rat", die sich zunächst nahezu immer vergeblich um Ausreisemöglichkeiten für Juden aus Holland bemühten. Die Isolierung und Entrechtung der Juden dort nahm kontinuierlich zu, ohne dass dies öffentliches Aufsehen erregte oder die Bedrängten breitere Hilfe und Unterstützung erhielten.
Im Sommer 1942 begannen die Deportationen von jüdischen Männern, Frauen und Kindern angeblich zum Arbeitseinsatz nach Deutschland, in Wahrheit jedoch nach Auschwitz. Dabei übermittelte der Jüdische Rat die Aufrufe zur Erfassung, und die Deutschen organisierten mit Unterstützung der holländischen Polizei die Verhaftungen und Abtransporte der jüdischen Opfer. Innerhalb von drei Monaten waren 20 000 jüdische Menschen nach Auschwitz deportiert worden, nur einzelne überlebten. Der Jüdische Rat befolgte die Vorgaben der Deutschen gewissenhaft und konzentrierte seine Bemühungen auf Ausnahmegenehmigungen und die "Freistellung" Einzelner. Die Kirchen protestierten erfolglos vor allem gegen den Abtransport von getauften Juden. Die Exilregierung und die niederländische Königin, die ab Ende 1942 ebenso wie die gesamte westliche Welt über den Judenmord informiert waren, richteten ihre Appelle an die gesamte niederländische Bevölkerung, ohne das besondere Schicksal der Juden in den Vordergrund zu rücken. Später lehnte sie Bemühungen um den Freikauf von holländischen Juden mit der Begründung ab, dass damit deutsche Kriegshandlungen ermöglicht würden. Internationale jüdische Hilfsorganisationen kümmerten sich nicht in besonderer Weise um die Juden in den Niederlanden. Bis Februar 1943 waren 46 457 Juden, also fast ein Drittel der Juden aus den Niederlanden, nach Auschwitz deportiert. In den folgenden Monaten fuhren weitere Transporte nach Theresienstadt, und zwischen März und August 1943 gingen Transporte mit 34 314 Juden in das Vernichtungslager Sobibor, von denen nicht einmal 20 überlebten.
Als seit dem Frühjahr 1943 der niederländische Widerstand gegen den zunehmenden Terror der Besatzung zunahm und es auch verstärkt Hilfsaktionen für Juden gab, war es jedoch für die meisten der Bedrohten zu spät. Die Hälfte der jüdischen Bevölkerung war bereits ermordet, die anderen in Lagern in Erwartung ihres Abtransports gefangen. Von 25 000 Juden, die hofften, im Versteck zu überleben, wurden 12 000 aufgespürt und deportiert. Etwa 6000 Kinder konnten versteckt und von ihren Eltern getrennt überleben. Die letzte große Razzia fand am 29. September 1943 statt. Dann wurde der Jüdische Rat aufgelöst, und zu Beginn des Jahres 1944 erhielt Heinrich Himmler die Nachricht: "Das eigentliche Juden-Problem in Holland kann als gelöst betrachtet werden."
Die Rettung der Juden hatte nie Priorität, weder bei den Alliierten noch bei der Exil-Regierung
Die verzweifelten Versuche jüdischer Hilfsorganisationen, wenigstens in den letzten Monaten vor dem Ende der deutschen Herrschaft noch einzelne Juden durch Freikäufe oder aufgrund eines Sonderstatus der Betroffenen außer Landes zu bringen, änderte nichts mehr an der katastrophalen Gesamtbilanz der jüdischen Opfer in den Niederlanden. Aktionen zu ihrer Rettung hatten zu keinem Zeitpunkt weder bei den Alliierten noch bei der holländischen Exilregierung Priorität vor den Kriegsplanungen. Der Jüdische Rat hatte bis zu seiner Auflösung ohne Widerstand die deutschen Anweisungen befolgt. Die internationalen jüdischen Hilfsorganisationen, die teilweise unterschiedliche Ziele verfolgten, blockierten sich oftmals gegenseitig in ihren Bemühungen um Hilfeleistung.
Katja Happe hat bei ihrer Darstellung niemals die deutsche Verantwortung für den Genozid aus dem Blick verloren. Aber erst durch die Gesamtansicht des Handelns aller beteiligten Akteure, die einen Teil der Verantwortung für den Verlauf der Tragödie trugen, konnte sie sich der Beantwortung der Frage "Wie konnte das geschehen?" annähern.
Von zentraler Bedeutung sind die Stimmen der Opfer, deren Zeugnisse die historische Darstellung durchgehend begleiten. Sie machen dem Leser immer wieder bewusst, dass es einzelne Menschen waren, denen alles genommen wurde, bevor man sie ihren Mördern auslieferte. Sie vermitteln die zentrale Botschaft dieses wichtigen Buches, dem man viele Leser auch über ein Fachpublikum hinaus wünscht.
Barbara Distel war von 1975 bis 2008 Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau. Sie beschäftigt sich weiterhin mit der Geschichte der nationalsozialistischen Verbrechen.