Gipfeltreffen in Vilnius:Aus Wut wird über Nacht Zufriedenheit

Lesezeit: 3 min

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij (l.) und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg beim Gipfeltreffen in Vilnius. (Foto: Mindaugas Kulbis/AP)

Einen Tag nach seinen erbosten Tweets zeigt sich der ukrainische Präsident Selenskij plötzlich zufrieden, vor allem mit den Sicherheitsgarantien der G-7-Staaten. Ein Ersatz für eine Nato-Mitgliedschaft seien diese aber nicht.

Von Matthias Kolb

Mit einer halben Stunde Verspätung beginnt die Pressekonferenz von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg und dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij beim Gipfeltreffen in Vilnius. Dieser hatte zuvor schon zahlreiche Gespräche geführt: mit Bundeskanzler Olaf Scholz, dem britischen Premier Rishi Sunak oder dem Niederländer Mark Rutte. Das Thema war immer gleich: Welche Hilfe erhält die Ukraine, um sich gegen Russland zu verteidigen, das seit mehr als 16 Monaten einen Angriffskrieg gegen das Land führt?

Dass Stoltenberg die bisherigen Ergebnisse des Gipfels und die angekündigte Unterstützung für die Ukraine lobt, verwundert nicht. Sie führten dazu, dass die Ukraine der Nato "heute näher als je zuvor" stehe. Mit dem Satz "Wir treffen uns heute als gleichwertige Partner und ich freue mich auf den Tag, wenn wir uns als Verbündete sehen" beendet der Generalsekretär sein Statement und spielt damit auf die Abschlusserklärung des Gipfels an. Darin heißt es zwar, dass "die Zukunft der Ukraine in der Nato" liege - aber sie enthält keinen konkreten Zeitplan.

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Das Ergebnis des Gipfels von Vilnius mag die Ukrainer enttäuschen - doch es könnte ihnen noch sehr nutzen, mehr jedenfalls als die Erfüllung ihrer Wünsche zum Beitritt ins Bündnis.

Kommentar von Joachim Käppner

Er verstehe, dass die Ukraine im Krieg nicht Mitglied werden kann, sagt Selenskij

Selenskij hatte seinen Frust über die entsprechenden Passagen des Abschlussdokuments bereits vor seinem Abflug nach Vilnius via Twitter deutlich gemacht und diese "absurd" genannt. Nun äußert sich der Präsident ganz anders. Die Ergebnisse des Gipfels in Vilnius seien zu begrüßen, sagt er. So sei es wichtig, dass sein Land vor einem Beitritt nicht den sonst üblichen Membership Action Plan (MAP) durchlaufen müsse. Einzige Kritik: Es wäre aber "ideal" gewesen, wenn die Nato formell eine Einladung an die Ukraine zum Beitritt ausgesprochen hätte.

Auch in seinen Antworten auf die Fragen der Reporter vermeidet es der Ukrainer, Worte wie "absurd" zu wiederholen oder die Unterstützung durch die westlichen Partner in Frage zu stellen. Eine Einladung hätte sein Volk und die Armee ähnlich motiviert wie der Status des EU-Beitrittskandidaten, den man 2022 erhalten habe. Er verstehe, dass die Ukraine nicht während des Krieges Nato-Mitglied werden kann, so Selenskij.

Von zentraler Bedeutung seien aber die Sicherheitsgarantien für die Ukraine, die von den G-7-Staaten beschlossen wurden und am Nachmittag nach Ende des Nato-Gipfels vorgestellt werden sollen. Diese seien wichtig als Schutz für die Ukraine "auf dem Weg in die Nato" und eben kein "Ersatz für die Nato-Mitgliedschaft", betont Selenskij in der Pressekonferenz. Den neuen Nato-Ukraine-Rat, der am Mittag erstmals tagte, sieht der Ukrainer als Teil der Integration in das Verteidigungsbündnis - und dass man auf Augenhöhe agiere.

Die Ukraine macht auf dem "Reformweg" noch nicht genug Fortschritte

Am Tag zuvor hatte Selenskij noch beklagt, dass sich die Nato gegenüber Moskau als schwach präsentiere - und dass diese Unsicherheit es Russland erlaube, den "Terror" gegen die Ukraine fortzusetzen. Die Ukrainer sind unzufrieden mit Punkt 11 des Abschlussdokuments, über das die 31 Nato-Mitglieder bis Dienstagnachmittag verhandelt hatten. Darin wird klar festgehalten, dass man eine Einladung an die Ukraine für eine Mitgliedschaft erst dann "aussprechen kann, wenn alle Bündnispartner zustimmen und die Bedingungen erfüllt sind".

Die Ukraine habe Fortschritte auf ihrem "Reformweg" gemacht, aber weitere Schritte seien nötig. Details wurden nicht genannt, allerdings dürfte es sich um jene Themen handeln, die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Mittwochmorgen nannte. Ihre Behörde wolle Kiew beim Kampf gegen Korruption und die Stärkung der Institutionen weiter unterstützen. In der Pressekonferenz sagte der ukrainische Präsident, er gehe davon aus, dass die Bedingungen erfüllt seien, wenn in seinem Land wieder Sicherheit herrsche.

Ukrainische Piloten werden an "F-16"-Kampfjets ausgebildet

Selenskijs öffentlich geäußerte Enttäuschung überdeckte die weiteren Zusagen für Militärhilfe. Nach Großbritannien wird auch Frankreich Marschflugkörper vom Typ Storm Shadow mit einer Reichweite von bis zu 250 Kilometern an die Ukraine liefern. Am Mittwoch kündigte London die Lieferung von mehr Panzermunition sowie von Dutzenden gepanzerten Fahrzeugen an.

Deutschland liefert weitere 40 Schützenpanzer vom Typ Marder, 25 Kampfpanzer vom Typ Leopard 1A5 und fünf Bergepanzer aus Industriebeständen. Die Bundeswehr tritt zudem zwei Abschussgeräte für Patriot-Flugabwehrraketen ab. Norwegen kündigte an, weitere 218 Millionen Euro an die ukrainische Armee zu überweisen - und Australien liefert 30 Truppentransportpanzer vom Typ Bushmaster.

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Zudem gaben die Verteidigungsminister aus Dänemark und den Niederlanden bekannt, dass ukrainische Piloten von August an trainieren sollen, F-16-Kampfjets aus US-Produktion zu fliegen. Beide leiten ein entsprechendes Bündnis aus elf Nato-Staaten zur Ausbildung ukrainischer Kampfjet-Piloten, zu dem auch Großbritannien, Polen, Luxemburg und Kanada gehören. Deutschland ist nicht dabei.

Anders als etwa Dänemark, Belgien oder die Niederlande verfügt die Bundeswehr nicht über Kampfflugzeuge vom Typ F-16. Die Bundesregierung hat bisher auf eine Teilnahme an der Koalition verzichtet, weil man sich bereits an der Ausbildung für andere Waffensysteme wie Kampfpanzer, Artillerie und Flugabwehr sehr stark engagiere. Der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow hofft, dass die Ausbildung nicht länger als sechs Monate dauern wird. Sie soll zunächst in Dänemark beginnen und später in Rumänien erfolgen, also einem Nachbarland der Ukraine.

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