Münchner Neueste Nachrichten vom 25. Juli 1914:Die Börsen wittern Krieg

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Ausriss aus den Münchner Neuesten Nachrichten vom 25. Juli 1914 (Foto: Oliver Das Gupta)

Heute vor 100 Jahren in der Zeitung: Das Ultimatum von Österreich-Ungarn an Serbien versetzt Europa in Unruhe. Kommt ein Krieg? Die deutsche Führung heuchelt Unwissenheit, die Börsen sind alarmiert - und die SZ-Vorgängerzeitung straft sich selber Lügen.

Von Oliver Das Gupta

Für die Börsen scheint vor 100 Jahren der Fall klar zu sein. Die Münchner Neuesten Nachrichten beschreiben am 25. Juli 1914 ausführlich, wie die Wertpapierhändler das Ultimatum Österreich-Ungarns an Serbien werten: Als Fanal eines Krieges.

Die Rede ist allgemein von "schweren Kurseinbrüchen". In Berlin seien die amtlich nicht notierten Industriewerte "ohne jeden Halt", in Wien waren Bahnaktien besonders stark betroffen, in Paris kam es zu einer "starken Erschütterung des Kursniveaus", russische Bankaktien brachen ein. Auch in London war die Stimmung "sehr schwach" und im fernen New York schloss die Wall Street "sehr flau".

Berlin tut überrascht - eine dreiste Lüge

In einem hinführenden Text vor den Börsenmeldungen mahnt die SZ-Vorgängerzeitung "die Kapitalistenkreise ihre Besonnenheit" zu bewahren. "Von einer Panik" könne nicht gesprochen werden, heißt es beschwörend, "Bestürzung oder Verzweiflung waren nicht zu beobachten".

Die Börsen wittern Krieg und die meisten Zeitgenossen wohl auch. Doch allgemein erwartet man einen kurzen Militärschlag der Doppelmonarchie gegen Serbien, eine lokale Strafaktion gegen den Rivalen auf dem Balkan, der Wien seit langem lästig ist. Die Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand in Sarajevo ist für die austriakische Führung ein willkommener Anlass, die Machtfrage auf dem Balkan gewaltsam zu klären.

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Das Ultimatum ist bewusst so formuliert, dass Belgrad nicht all die Bedingungen erfüllen kann ( hier mehr dazu). Die erwartete Ablehnung will Wien als Vorwand für die Militäraktion nutzen. So ist der Plan der österreichischen Strategen. Aber am 25. Juli 1914 läuft noch die 48-Stunden-Frist.

Dass der lokale Konflikt ein Flächenbrand werden könnte, der Europa in Flammen setzt, deuten die Journalisten auf der Titelseite an: "Jeder Versuch, irgend einen Dritten hineinzuziehen, müsste die Krise verschärfen und ihre Wirkung ausbreiten".

Die Münchner Neuesten Nachrichten bieten ihren Lesern ein umfassendes Stimmungsbild zu der Krise. Sie zitieren Pressestimmen aus Österreich, die die diplomatische Note als "das Werk einer langen und sorgfältigen Erklärung" loben (was durchaus zutrifft, denn der Plan für den Krieg fiel bereits in der ersten Julihälfte).

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Aus Ungarn, der zweiten Reichshälfte des Habsburger Imperiums, wird vom Auftritt des Ministerpräsidenten István Tisza im Budapester Parlament berichtet. Der Premier war hinter den Kulissen anfangs einer, der die Kriegstreiber bremste, doch nun beeilt er sich, das Ultimatum zu preisen: Die diplomatische Verschärfung durch Österreich-Ungarn bedürfe "keiner Rechtfertigung. Es müsste vielmehr erklärt werden, warum der Schritt erst jetzt erfolgte". Tisza gibt vor, dass Österreich-Ungarn erst die Ermittlungen zum Sarajevo-Mord abwarten wollte - eine glatte Lüge.

Der wahre Grund für die späte Reaktion Österreich-Ungarns: Man wollte den Militärschlag vorbereiten, sicherte sich erst ab beim deutschen Verbündeten und wartete dann das Gipfeltreffen der französischen und russischen Staatsspitze ab - den potentiellen Feinden ( hier mehr dazu).

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Heute vor 100 Jahren lassen in der Zeitung nur Indizien erahnen, dass sich in Österreich etwas zusammenbraut. Das SZ-Vorgängerblatt berichtet vom Hin und Her beim bevorstehenden Ultimatum an Serbien, peinlichen Unruhen beim Russland-Besuch von Frankreichs Präsident Poincaré - und vom Mord an einem Chefredakteur.

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Die Spitze des deutschen Kaiserreichs ist darüber im Bilde, was Wien plant - doch tut so, als ob man genauso überrascht sei von der Entwicklung. Die Note sei nach Belgrad abgesandt worden ohne "dass man in Berlin um Rat erbeten" habe. Die deutsche Regierung des Kaisers habe nicht einmal "andeutungsweise" vom Inhalt des Ultimatums gewusst, lancierte die Reichsführung - eine dreiste Lüge.

Der deutsche Botschafter in Wien hatte sogar nach Berlin schriftlich berichtet, dass es zu einer verzögerten Übergabe wegen der russisch-französischen Gespräche kommen sollte. "Wie schade", kritzelt Kaiser Wilhelm II. auf die geheime Depesche. Der österreichische Botschafter in Berlin meldet am 25. Juli ebenso vertraulich nach Wien, dass Deutschland nach der serbischen Ablehnung des Ultimatums "sofort unsere Kriegserklärung, verbunden mit kriegerischen Operationen" gegen Belgrad erwarte. Doch davon steht nichts in der Zeitung.

Dafür drucken die Münchner Neuesten Nachrichten eine Falschmeldung ab, die zeigt, wie sehr in der Julikrise bereit Propaganda und Desinformationen in den Journalismus einsickern. Es heißt, der serbische Regierungschef Nikola Pašić sei bei der Übergabe des Ultimatums nicht im Belgrad gewesen, ja er hätte nun erklärt, ins Ausland zu reisen. Diese Meldung soll offenkundig den Eindruck erwecken, die serbische Regierung sei nicht handlungsfähig und der Premier feige.

Wahr ist: Pašić ist auf Wahlkampfreise in Serbien unterwegs. Als er von der Note erfährt, reist er sofort in die Hauptstadt und berät mit dem Kabinett und den Militärspitzen über das weitere Vorgehen. So steht es in den Münchner Neuesten Nachrichten, die sich damit in derselben Ausgabe selbst Lügen straft. Die falsche und die zutreffende Meldung trennen nur zwei Seiten.

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Die Abendausgabe enthält Nachrichten der künftigen Kriegsgegner:

  • In dem Blatt ist bereits eine Reaktion aus Russland erhalten, der Schutzmacht Belgrads. Dem Zarenreich könne das "Schicksal Serbiens nicht gleichgültig sein", heißt es. Gerüchte kursieren in Sankt Petersburg über eine Verlegung von Armeeeinheiten in Richtung Österreich-Ungarn, das damals noch an Russland grenzt. Hinter den Kulissen wird die russische Regierung dem österreichischen Gesandten eindeutig klar machen, dass man Serbien nicht im Stich lassen werde.
  • In Österreich reist der Außenminister Leopold Berchtold nach Ischl, wo Kaiser Franz Joseph I. weilt. Das steht in den Münchner Neuesten Nachrichten. Was nicht darin steht: Graf Berchtold will den greisen Monarchen die Kriegserklärung unterschreiben lassen.
  • Aus Frankreich werden vor allem Pressestimmen zitiert, die fast durchweg "österreichfeindlich" gehalten sind. Was die Münchner Neuesten Nachrichten besonders aufspießen: "Eine französische Flunkerei" sei die Behauptung von Pariser Zeitungen, wonach die Eskalation der Krise "im ganz Geheimen" vorbereitet worden sei - ein Vorwurf an Berlin und Wien, der voll und ganz zutraf, wie Dokumente zweifelsfrei belegen (hier mehr dazu).
  • In Großbritannien scheint die Presse zumeist Verständnis für Österreich-Ungarn zu haben. Einige Blätter wie der Daily Chronicle schreiben, dass das Vorgehen Wiens als "angemessen erscheine". Tatsächlich versucht die britische Regierung in diesen Tagen fieberhaft, die Krise zu diplomatisch entschärfen. Nach Außen gibt sich die britische Führung bedeckt, aber intern ist die Sorge groß: "Ich glaube, Europa steht in diesem Augenblick so nahe an einem allgemeinen Krieg wie seit vielen Jahren nicht mehr", sagt der britische König George V. an jenem Tag.
  • Und Deutschlands Staatsoberhaupt? Kaiser Wilhelm II. befindet sich noch an Bord seiner Yacht und schippert an skandinavischen Küsten entlang. In Norwegen geht er an Land und besichtigt eine Holzkirche aus dem Mittelalter. Majestät ist entspannt, so liest sich das in der Zeitung.

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Tatsächlich aber ist Wilhelm II. ungeduldig. Er kennt die Lage und will zurück nach Berlin, doch Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg bremst ihn an diesem Tag. Der deutsche Regierungschef will für die Öffentlichkeit (und die anderen Staaten) den Anschein erzeugen, dass das Reich nur auf ausländische Aggressionen reagiert. Deutschland soll friedlich erscheinen und nicht als Großmacht, das längst den großen Krieg geplant hat ( hier mehr dazu). Deshalb schickt der Kanzler dem Kaiser ein Telegramm an jenem 25. Juli, in dem er ihn "alleruntertänigst" bittet, seinen Urlaub nicht abzubrechen. "Unglaubliche Zumuthung!", schreibt Wilhelm II. auf das Telegramm und fügt sich doch.

Drei Tage später beginnt der Erste Weltkrieg.

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