Münchner Neueste Nachrichten vom 23. Juli 1914:Geheimes Timing mit Poincaré

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Erster Weltkrieg Raymond Poincaré, Zar Nikolaus II.Frankreich Julikrise

Juli 1914: Der französische Präsident Raymond Poincaré (Mitte) besucht Zar Nikolaus II. in Sankt Petersburg.

(Foto: Oliver Das Gupta)

Heute vor 100 Jahren lassen in der Zeitung nur Indizien erahnen, dass sich in Österreich etwas zusammenbraut. Das SZ-Vorgängerblatt berichtet vom Hin und Her beim bevorstehenden Ultimatum an Serbien, peinlichen Unruhen beim Russland-Besuch von Frankreichs Präsident Poincaré - und vom Mord an einem Chefredakteur.

Von Barbara Galaktionow

Der 23. Juli 1914 ist ein Tag, der die gesamte Geschichte des 20. Jahrhunderts prägen soll. An diesem Donnerstag im Hochsommer übergibt ein hoher Vertreter Österreich-Ungarns ein Dokument an die Regierung in Belgrad. Der britische Außenminister Sir Edward Grey wird es "eines der ungeheuerlichsten Dokumente von einem Staat an einen anderen, unabhängigen Staat" nennen. Es ist ein Ultimatum mit unannehmbaren Bedingungen. Es wird binnen weniger als zwei Wochen zu Kriegserklärungen zwischen den großen europäischen Staaten führen.

Der Weg in den Ersten Weltkrieg

SZ.de dokumentiert, wie die Münchner Neuesten Nachrichten vor 100 Jahren über den Weg in den Ersten Weltkrieg berichtet haben. Die Tageszeitung war die Vorgängerin der Süddeutschen Zeitung.

Am Morgen dieses verhängnisvollen 23. Juli können Leser der Münchner Neuesten Nachrichten ihrem Blatt allerdings nur Indizien entnehmen, die auf die kommenden Ereignisse hinweisen, und die erst auf den hinteren Seiten.

Auf ihrer Titelseite veröffentlicht die Zeitung einen knappen Bericht "aus militärischen Kreisen" über den Zustand der deutschen Luftflotte. Deutschlands Nachbarn im Osten und Westen hätten die Bedeutung der jungen Waffendisziplin klar erkannt, schreibt der namentlich nicht genannte Experte. Sie seien mit allen Kräften bestrebt, ihre Luftflotten auszubauen. Seine Folgerung: "Deutschland darf nicht zurückstehen."

Von den Münchner Neuesten Nachrichten wird der Bericht gewürdigt, doch zugleich relativiert. Der Verfasser eile "mit seinen Annahmen den tatsächlichen Verhältnissen weit voraus", heißt es. Dass diese Verhältnisse sich bald in atemberaubenden Tempo verändern würden, ahnt man noch nicht. Im Ersten Weltkrieg dienten Flugzeuge zunächst zu Erkundungszwecken, wurden zunehmend jedoch auch als todbringende Waffenträger genutzt.

Sensationsprozess um Pariser Intimitäten

In Frankreich erregt indes ein Mordprozess großes Aufsehen. Politische Verwicklungen, Liebschaften in höchsten Kreisen und ein schweres Verbrechen - hier steckt alles drin. "Auf der Anklagebank sitzt eine Frau, die von den höchsten Sprossen der sozialen Leiter herunterstieg zur rächenden, leidenschaftlich blinden Bluttat", schreibt der Zeitungskorrespondent.

Die Frau ist Henriette Caillaux, zweite Ehefrau des ehemaligen französischen Premierministers Joseph Caillaux. Sie hatte am 16. März 1914 den Chefredakteur des Figaro in seinem Büro erschossen. Das konservative Blatt hatte zuvor eine Schmutzkampagne gegen den linksgerichteten Politiker Caillaux geführt und plante im Zuge dessen auch die Veröffentlichung zweier sehr privater Schreiben. Es ging um Briefe, die Caillaux während seiner ersten Ehe an Henriette geschrieben hatte, die damals noch seine Geliebte war.

Die zweite Madame Caillaux wollte jedenfalls nicht zulassen, dass "unsere ganze Intimität" der Öffentlichkeit preisgegeben werde. Mit einer kleinen Browning-Pistole, die sie, wie es heißt, "im Muff trug, neben dem Handspiegel und der Puderdose, diesen harmlosen Waffen schöner Pariserinnen", fuhr sie in die Redaktion des Figaro, zu Chefredakteur Gaston Calmette. "Als die verzweifelte, für ihre und des Gatten Ehre und Ehrgeiz zitternde Frau den verhaßten Mann vor sich sah, schoß sie, ein-, zwei- drei- ... sechsmal!", heißt es - und nun muss sich Madame Caillaux also wegen Mordes vor Gericht verantworten. Ihr Mann verteidigt sie. Er wird ein paar Jahre später selber im Gefängnis landen - wegen seiner Deutschland-freundlichen Haltung im Ersten Weltkrieg.

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