Krisen vor dem Ersten Weltkrieg:Der lange Weg zum ersten Schuss

Erzherzog Franz Ferdinand

Der österreichisch-ungarische Thronfolger Franz Ferdinand (rechts) besucht Kaiser Wilhelm II. (Mitte) in Berlin 1909. Die Freundschaft wird Wilhelm noch belasten - und der gewaltsame Tod des Erzherzogs 1914 den Ersten Weltkrieg auslösen.

(Foto: dpa)

Von der "Krüger-Depesche" zum "Panthersprung von Agadir": Vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges verschlechtern mehrere Krisen die Beziehungen der europäischen Mächte. Vor allem der deutsche Kaiser Wilhelm II. trägt dazu bei, dass 1914 das politische Klima auf dem Kontinent vergiftet ist. Ein Affären-Überblick.

Von Kim Björn Becker und Lara Gruben

Oft sind es nur wenige Worte, doch sie entfalten eine unbeabsichtigt große Wirkung: Immer wieder wirken Misssverständnisse als Brandbeschleuniger eines Konflikts.

In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg führten etliche Krisen zu weitreichendem Missstrauen zwischen den europäischen Kapitalen. Mindestens drei dieser Krisen sind durch Kommunikationsprobleme entstanden.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts konkurrierten mehrere europäische Großmächte auf dem Kontinent: Das zaristische Russland wollte auf Kosten des morschen Osmanischen Reichs Territorium und Einfluss vergrößern. Die Interessen von Sankt Petersburg kollidierten auf dem Balkan mit denen des verunsicherten Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn, das mit den Aufbegehren vernachlässigter Ethnien zu kämpfen hatte.

Erwartung eines "reinigenden Gewitters"

Frankreich und das Deutsche Reich trennte eine "Erbfeindschaft", nach dem Krieg von 1870/71 hatten die Deutschen Elsaß-Lothringen annektiert. Italien träumte davon, sich die italienischsprachigen Regionen Österreichs einzuverleiben. Und der seit 1888 regierende deutsche Kaiser Wilhelm II. sah sein Reich als benachteiligt und schwadronierte immer mal wieder von Krieg.

Der Hohenzoller löste einige der Affären aus und sorgte auch durch seine Flottenpläne dafür, dass sich das eigentlich gute Verhältnis zu Großbritannien verschlechterte - und dass, obwohl London vor allem daran gelegen war, den Status quo auf dem Kontinent zu bewahren.

Mit den Jahren wuchs in den europäischen Ländern die Kriegserwartung. Es war sogar die Rede von einem "reinigenden Gewitter" - eine naive und schlimme Schönfärberei. Denn nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand 1914 folgte ein bis dahin noch nie dagewesenes Blutvergießen.

Auf den folgenden Seiten dokumentiert Süddeutsche.de wichtige Zwischenfälle und Affären, die vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges das politische Klima in Europa vergiftet haben.

Krüger-Depesche, 1896

Artillerie der Buren, 1899

Ein 15-cm-Belagerungsgeschütz der Buren (Marke Creuzot), beim Beschuss von Mafeking, der Hauptstadt von Britisch-Betschuanaland, während des Burenkrieges am Ende des 19. Jahrhunderts.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Manchmal genügen wenige Zeilen, um das Verhältnis zwischen zwei Ländern schwer zu belasten. Im Falle Deutschlands und Großbritanniens führte die sogenannte Krüger-Depesche im Januar 1896 dazu, dass sich das Klima zwischen Berlin und London mit einem Mal spürbar abkühlte.

Kaiser Wilhelm II. schickte am 3. Januar ein Glückwunschschreiben an Paulus "Ohm" Krüger, den Präsidenten der südafrikanischen Burenrepublik Transvaal. Zuvor hatten die Südafrikaner den Angriff einer Privatarmee abgewehrt. Diese stand unter der Führung des Briten Leander Starr Jameson, darüber hinaus dienten mehrere britische Offiziere in ihr. Für Berlin stand es außer Zweifel, dass eigentlich das britische Empire hinter dem Einfall der sogenannten Privatarmee stand - auch wenn sich London nach Kräften bemühte, diesen Eindruck zu zerstreuen.

"Als Friedensstörer in Ihr Land eingebrochen"

"Ich spreche Ihnen meinen aufrichtigen Glückwunsch aus, dass es Ihnen, ohne an die Hilfe befreundeter Mächte zu appellieren, mit Ihrem Volke gelungen ist, in eigener Tatkraft gegenüber den bewaffneten Scharen, welche als Friedensstörer in Ihr Land eingebrochen sind, den Frieden wiederherzustellen und die Unabhängigkeit des Landes gegen Angriffe von außen zu wahren", ließ Berlin den Südafrikanern nach der gescheiterten Invasion mitteilen. Dabei hat Wilhelm II. selbst britische Wurzeln. Königin Victoria war seine Großmutter.

In London wurde die Depesche als Affront wahrgenommen. Dort sah man die Burenrepublik Transvaal ohnehin als Teil des britischen Empires an und verbat sich daher eine Einmischung des Deutschen Reichs.

Als Reaktion kündigten die Briten das Mittelmeerabkommen von 1887 auf. Darin hatten sich auf Vermittlung des früheren Reichskanzlers Otto von Bismarck hin mehrere Staaten dazu verpflichtet, die Machtverteilung im Mittelmeer anzuerkennen. Bismarck hatte mit seinem Geflecht von Verträgen den Erbfeind Frankreich diplomatisch isolieren und Deutschland nach den übrigen Seiten absichern wollen. Doch der junge Kaiser feuerte Bismarck zwei Jahre nach der Thonbesteigung - und ließ Bündnisse auslaufen.

Der Ausstieg des Empires aus dem Mittelmeerabkommen schwächte das Deutsche Reich und führte dazu, dass sich London und Moskau diplomatisch einander annäherten.Bis zum nächsten Zwischenfall.

Doggerbank-Zwischenfall, 1904

Deutsche Kriegsschiffe vor der Schlacht an der Doggerbank, 1915

Nach dem Zwischenfall von 1904 fand an der Doggerbank 1915 eine Seeschlacht statt: Deutsche Kriegsschiffe, darunter die Blücher (rechts), unterlagen dabei der überlegenen britischen Marine.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Die Doggerbank ist kein Kreditinstitut - sie ist eine seichte Stelle in der Nordsee: Etwa 300 Kilometer lang, rund 100 Kilometer breit, nur etwa 13 Meter flach. Das Gebiet zwischen Großbritannien und Dänemark wäre heute allenfalls als Fischgrund bekannt, hätte sich dort im Oktober 1904 nicht ein folgenschwerer Zwischenfall ereignet.

Die russische Ostseeflotte hatte erst vor wenigen Tagen den Hafen von Libau im heutigen Lettland verlassen, um vor der Küste Chinas im Russisch-Japanischen Krieg mitzumischen. Auf ihrem Weg durch die Nordsee wurden die Crews mehrmals vor japanischen Torpedobooten gewarnt, die kurz zuvor in Großbritannien vom Stapel gelaufen sein sollen. Diese Sorge nahm, angesichts der Entfernung, paranoide Züge an. In der Nacht vom 21. auf den 22. Oktober 1904 hielt erst die Besatzung der russischen Kamtschatka ein harmloses schwedisches Schiff für ein japanisches Torpedoboot und warnte die Kameraden auf den übrigen Schiffen vor der vermeintlichen Gefahr.

Kriegsschiffe überlassen Fischer ihrem Schicksal

Später passierte die Flottille eine Gruppe britischer Fischerboote und einige Offiziere glaubten dahinter erneut ein Torpedoboot der Japaner zu erkennen. Ohne einen entsprechenden Befehl erhalten zu haben, eröffnete ein russischer Geschützführer das Feuer auf die Fischerboote. Die anderen Kriegsschiffe feuerten daraufhin ebenfalls. Bei dem Angriff auf die unbewaffneten britischen Seeleute kamen mehrere Fischer ums Leben, etliche weitere wurden verletzt. Als die Crews den Irrtum bemerkt hatten, befahl der russische Admiral Sinowi Roschestwenski, dass die Flotte weiterfahren soll. Die Schiffbrüchigen überließ er - entgegen allen seerechtlichen Konventionen - ihrem Schicksal.

Der Doggerbank-Vorfall stürzte Russland und Großbritannien in eine tiefe diplomatische Krise: König Edward VII. tobte, der russische Botschafter in London erhielt Polizeischutz. Die britische Marine kesselte die russischen Schiffe ein, bis der Vorfall untersucht wurde. Am Ende zahlte Russland den Fischern und ihren Hinterbliebenen eine Entschädigung.

Später beruhigten sich die Gemüter zwischen London und Moskau allerdings wieder - und Russland trat 1907 sogar dem Entente-Bündnis zwischen Frankreich und Großbritannien bei. Doch später veröffentlichte Dokumente belegen, dass die Briten der russischen Führung misstrauten und deren Ambitionen fürchteten.

Erste Marokkokrise, 1904-1906

Der Landungsplatz von Algecoras 1906

Im andalusischen Algeciras wurde die Erste Marokkokrise mit einer Konferenz im Hotel "Reina Cristina" beendet. Im Bild: der Landungsplatz von Algeciras im Konferenzjahr, im Hintergrund der Felsen von Gibraltar.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Auf dem Spiel standen nicht weniger als Macht und Einfluss im nördlichen Afrika: In der Ersten Marokkokrise führten die unterschiedlichen kolonialen Ansprüche der europäischen Großmächte zu deutlichen Reibereien. Seit 1880 hatten sich diese mit dem Madrider Abkommen gegenseitig zugesichert, im Rahmen der "Politik der offenen Tür" einen gleichmäßigen Zugang zu Marokko aufrechtzuerhalten.

Frankreich strebte jedoch die Vorherrschaft im Maghreb an und bemühte sich nach Kräften, das Abkommen von 1904 an zu unterminieren. Das wiederum passte dem Deutschen Reich unter Wilhelm II. überhaupt nicht - Berlin sah Frankreich als "Erbfeind", hatte wirtschaftliche Interessen in Nordafrika und drang darauf, die "Politik der offenen Tür" wie vereinbart fortzusetzen.

Der Kaiser zu Besuch beim Sultan von Marokko

Wilhelm II. verhalf den deutschen Interessen am 31. März 1905 mit einem Besuch beim marokkanischen Sultan in Tanger zu besonderem Ausdruck. In Frankreich wurde das Treffen äußerst kritisch beäugt. Im Jahr darauf sollte der Streit um den Status Marokkos bei einer Konferenz im spanischen Algeciras beigelegt werden: Das Deutsche Reich versuchte, Frankreich politisch auszustechen und die Verbindungen zwischen Paris und London zu schwächen.

Doch der Plan ging nicht auf, das Gegenteil trat ein: Im Ergebnis der Konferenz, das in der Algeciras-Akte festgehalten wurde, wurden Frankreich weitreichende Befugnisse in Marokko zuerkannt - und das Deutsche Reich stand in Europa noch isolierter dar.

Eulenburg-Affäre, 1907-1909

Kaiser Wilhelm II. an Bord der "Hohenzollern", 1904

Kaiser Wilhelm II. (zweiter von rechts) an Bord seiner Yacht Hohenzollern auf seiner Nordlandfahrt im Jahre 1904. Ebenso zu sehen ist Graf Kuno von Moltke (links), der auch in den Homosexualitäts-Skandal verwickelt war.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Er war nicht nur Diplomat, sondern auch vertrauter Freund des deutschen Kaisers Wilhelm II. - und am Ende brachte sein Privatleben beide in die Bredouille: Fürst Philipp zu Eulenburg war homosexuell.

Weil Homosexualität zu dieser Zeit aber unter Strafe stand, entspann sich um "Phili" zu Eulenburg, wie er im engsten Umfeld Wilhelms genannt wurde, einer der größten politischen Skandale der Kaiserzeit. In gleich mehreren Gerichtsverfahren ging es um angeblich homosexuelle Handlungen hochrangiger Politiker und Diplomaten.

Allen voran Eulenburg: Das Auswärtige Amt in Berlin entsandte ihn zunächst nach Wien, auch weil Homosexualität dort vergleichsweise milde geahndet wurde. In Österreich beschattete ihn die Geheimpolizei, angeblich um Erpresser fernzuhalten - doch der Plan misslang. Ein Wiener Bademeister verlangte 60.000 Mark, Eulenburg zahlte - und verlangte das Geld vom deutschen Staat zurück.

Ein Militärattaché wird zur Hilfe gerufen - und wird zum Problem

Um die Lage zu entschärfen, stellte Wilhelm II. ihm in Wien Graf Kuno von Moltke als Militärattaché zur Seite. Allerdings verschärfte diese Personalie die Lage nur: Kurze Zeit später beginnen die beiden eine Affäre. Ausgerechnet Moltkes Ehefrau deckte das Verhältnis auf und drohte, es öffentlich machen. Dabei entging sie nur knapp einer Einweisung in die Psychiatrie. 1902 trat Eulenburg als Botschafter zurück, um möglichen Enthüllungen zuvorzukommen.

Damit bewies er Weitsicht, denn die Affäre zwischen ihm und Moltke blieb nicht lange geheim: Der Arzt, dem sich Moltkes Frau anvertraute, behandelte auch den Publizisten Maximilian Harden. 1906 berichtet dieser in seiner Zeitschrift Die Zukunft über das Verhältnis von Moltke und Eulenburg und outet damit beide als schwul. Gemeinsam mit Moltke forderte Eulenburg von der Staatsanwaltschaft, gegen Harden vorzugehen - doch die lehnt es ab, Ermittlungen aufzunehmen.

Auch Reichskanzler von Bülow geriet unter Verdacht

Später wurde auch Reichskanzler Bernhard von Bülow in den Skandal verwickelt, indem man ihm homosexuelle Neigungen vorwarf. Auch der Kaiser selbst geriet zwischenzeitlich in Verdacht, mit Eulenburg ein Verhältnis zu haben. Anlass der Spekulationen war, dass sich Wilhelm auf Jagdausflügen mit Eulenburg das Zimmer geteilt hatte und Eulenburg überdies bei einem der Gerichtsprozesse aussagte, "vor seiner Majestät weder privat noch sonst irgendwelche Geheimnisse" zu haben.

Willhelm II. zog aus der Affäre private Konsequenzen: Noch bevor es zum Prozess gegen Eulenburg kam, hat Wilhelm II. im Mai 1907 den Kontakt zu seinen unter Verdacht geratenen Freunden abgebrochen. Der Prozess gegen den ehemaligen Diplomaten Eulenburg endete nach drei Monaten. Während der Verhandlungen wurde der Angeklagte im Gerichtssaal ohnmächtig und für verhandlungsunfähig erklärt

Der Ruf des Kaisers hatte durch die Affäre erheblich gelitten.

Bosnische Annexionskrise, 1908-1909

Nach dem Skandal um seinen Freund Philipp zu Eulenburg baute Willhelm II. ein enges Verhältnis zum Fürsten Max Egon II. zu Fürstenberg und dem österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand auf. Doch die Freundschaft hatte schwerwiegende politische Folgen.

Im Oktober 1908 annektierte Österreich-Ungarn formal die Provinzen Bosnien und Herzegowina. Schon drei Jahrzehnte lang wurde das eigentlich zum Osmanischen Reich gehörende Bosnien-Herzegowina von Wien aus verwaltet. Auch wenn sich mit der Annexion lediglich einige Formalia änderten, sah sich der deutsche Kaiser dadurch bedrängt - er verstand sein Verhältnis zum Osmanischen Reich als ein besonderes und fürchtete, seine Türkei-Politik würde durch Österreich-Ungarn unterwandert.

Innenpolitisch und wirtschaftlich wurde Österreich-Ungarn durch die Annexion jedoch geschwächt, die annektierten Provinzen waren arm. Zudem erkannte in Europa kein Staat die Annexion an. Das Habsburger Reich lief damit Gefahr, im Falle eines Angriffs auf Bosnien-Herzegowina keine Hilfe der Verbündeten zu bekommen.

Kaiser Wilhelm II. war enttäuscht, auch weil er nicht vom österreichischen Kaiser Franz Joseph I. vor der Einverleibung der Provinzen ins Vertrauen gezogen wurde. Trotzdem machte er im Oktober 1908 ein Allianzversprechen. Bereits 1879 hatte Wilhelm I. mit Österreich-Ungarn einen Zweibund geschlossen, der gegenseitige Unterstützung bei einem Angriff vorsah.

"Wundervolle Probe für den Ernstfall"

Als sich eine Möglichkeit des Krieges zwischen Österreich-Ungarn und Serbien abzeichnete, bestand die Gefahr, dass Deutschland durch den Balkankonflikt in den Krieg gegen Russland und Frankreich hineingezogen werden könnte. Die Annexion Bosnien-Herzegowinas hatte Österreich-Ungarn mit Russland abgesprochen, als Ausgleich sollte Russland die Kontrolle über die Dardanellen bekommen. Doch Großbritannien legte ein Veto ein und Russland ging leer aus - damit stieg die Kriegsgefahr.

Diese Aussage war bedenklich, weil ein mögliches Einschreiten Österreichs in Serbien wiederum einen Angriff der Schutzmacht Russlands hätte auslösen können.

1909 wurde ein großer Krieg nur vermieden, weil das Zarenreich im letzten Moment einlenkte. Dabei waren der Zar und Wilhelm II. Cousins, die sich in Briefen "Nicky" und "Willy" nannten. An der Kriegsbereitschaft Wilhelms II. zweifelte niemand. Bis zuletzt war er für ein Durchgreifen Österreichs. Aus dem Rückzug Russlands zog er den Schluss, alles richtig gemacht zu haben. Er nannte den Zusammenhalt Deutschlands und Österreich-Ungarns eine "wundervolle Probe für den Ernstfall".

Mit seiner Loyalität nahm Wilhelm II. den berüchtigten "Blankoscheck" vorweg, den er nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers am 5. Juli 1914 erteilen würde. Damit sicherte der Kaiser den Österreichern Rückendeckung zu für ein gewaltsames Vorgehen gegen Serbien, das am 28. Juli 1914 folgen sollte - dem Beginn des Ersten Weltkrieges.

Daily-Telegraph-Affäre, 1908

Bernhard von Bülow während der Daily-Telegraph-Affäre, 1908

Reichskanzler Bernhard von Bülow (mit Stock) auf dem Bahnhof von Potsdam nach der Rückkehr von einer Audienz bei Kaiser Wilhelm II. während der Daily-Telegraph-Affäre im Jahre 1908.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Eigentlich war Kaiser Wilhelm II. nur nach England gereist, um sich von den Enthüllungen um das Privatleben seines Freundes Philipp zu Eulenburg zu erholen. Doch noch im Urlaub geriet er schon in die nächste Affäre: Wilhelm II. gab dem Londoner Daily Telegraph ein umstrittenes Interview, in dessen Folge viele Deutsche den Rücktritt ihres Kaisers forderten.

In dem Interview, das am 28. Oktober 1908 erschien, ließ sich Wilhelm kritisch über die deutsche Politik aus. Der Kaiser sagte, er sei darauf bedacht, sich für Londons Interessen einzusetzen, auch wenn die Mehrheit der Deutschen England gegenüber feindlich eingestellt sei. Willhelm wollte damit offenkundig das Misstrauen Großbritanniens gegenüber dem von ihm forcierten deutschen Flottenbau abmildern - doch die Rechnung ging nicht auf. Viele Deutsche fühlten sich vom eigenen Herrscher brüskiert.

In vielen deutschen Städten protestierten Bürger gegen die Aussage und forderten den Kaiser dazu auf, seine Krone abzugeben. Auch die Abgeordneten des Reichstags kritisierten das undiplomatische Verhalten Wilhelms II.

Er selbst bemerkte erst eine Tage später, welche Reaktionen er mit dem Interview ausgelöst hatte: Als der Beitrag erschien, war Wilhelm gerade bei Österreichs Thronfolger Franz Ferdinand in Böhmen zu Gast. Erst später kam er mit den Chefs des Militär- und des Zivilkabinetts zusammen, um über die Causa zu sprechen. Großes Verständnis soll Wilhelm für die Aufregung der Deutschen allerdings nicht aufgebracht haben - für ihn stellte sich der Skandal als eine Verschwörung gegen ihn dar.

Zweite Marokkokrise, 1911

Kanonenboot "Panther", 1902

Das deutsche Kanonenboot Panther im Jahre 1902.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Sechs Jahre nach der ersten Krise wurde das nordafrikanische Marokko erneut zum Schauplatz der europäischen Macht- und Kolonialpolitik: Nachdem das Deutsche Reich Frankreich schon auf der Algeciras-Konferenz 1906 nicht davon abhalten konnte, seinen politischen Einfluss in Nordafrika zu vergrößern, reagierte Berlin ausgesprochen gereizt auf die neue Nachricht, dass französische Truppen im Sommer 1911 die marokkanischen Städte Fès und Rabat besetzt hatten.

Wenn man Paris schon nicht von seinen kolonialen Ansprüchen abhalten kann, so lautete die Rechnung in Berlin, dann kann man vielleicht zumindest selbst Profit daraus schlagen: Es war der Plan von Kaiser Wilhelm II., die Vorherrschaft Frankreichs in Marokko zu akzeptieren, sofern Frankreich dafür mehrere Kolonialgebiete ans Deutsche Reich abtritt.

Sorge in London

Um seine Forderung zu verdeutlichen, sandte Berlin unverhohlene Drohungen aus und hielt Europa die Gefahr eines Krieges vor Augen. In vielen Städten demonstrierten die Menschen für Frieden. Wilhelm II. schickte im Juli 1911 das Kanonenboot Panther in die marokkanische Hafenstadt Agadir. Der sogenannte "Panthersprung" stieß in Großbritannien auf große Skepsis - in London befürchtete man abermals, Deutschland könne Agadir als Militärstützpunkt ausbauen und wichtige britische Seeverbindungen kontrollieren.

Erst im November 1911 wurde die Zweite Marokkokrise beendet: Mit dem Marokko-Kongo-Vertrag erkannte das Deutsche Reich die Vorherrschaft Frankreichs in Marokko an, zugleich überließ Paris Berlin einen Teil ihrer Kolonie Französisch-Äquatorialguinea (Neukamerun). Im Ergebnis stand das Deutsche Reich allerdings abermals geschwächt dar - die Regierung in Berlin hatte sich weitaus mehr von dem Handel versprochen, als sie am Ende politisch durchsetzen konnte.

1914, als der Weltkrieg ausbrach, war Deutschland weitgehend isoliert und hatte sich an einen schwächelnden, aber in seiner Außenpolitik aggressiven Partner gebunden: Österreich-Ungarn.

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