Generaldebatte:Verkehrte Welt im Bundestag

  • Die erste Generaldebatte seit der Ankündigung Merkels, ihren Posten als CDU-Vorsitzende abzugeben, ist eine denkwürdige.
  • Während die AfD-Fraktionsvorsitzende Weidel sich vor allem für die Spendenaffäre ihrer Partei rechtfertigt, wird die Kanzlerin grundsätzlich.
  • Von Digitalisierung über internationale Zusammenheit bis hin zum UN-Migrationspakt, Merkel zeichnet ein großes Bild und wirkt dabei befreit.

Von Stefan Braun, Berlin

Kurz nach halb neun ist im Plenum fast niemand da. Zwei aber sitzen schon in der ersten Reihe: Alexander Gauland und Alice Weidel. Die AfD-Politiker lesen, schreiben und arbeiten an ihren Reden. Sie sprechen zwar kein Wort miteinander, aber irgendwie wollen sie trotzdem den Eindruck erzeugen, noch passe kein Blatt zwischen sie.

Dass das nicht mehr ganz stimmt, seitdem ominöse Spenden auftauchten und inzwischen viele Debatten beherrschen, weiß innerhalb und außerhalb ihrer Fraktion jeder. Öffentlich aber soll das Politpaar Gauland/Weidel harmonisch bleiben.

Zumal sinkende Umfragewerte und die Sorge vor einer Beobachtung durch den Verfassungsschutz die AfD ohnehin zusammenrücken lassen. Jedenfalls nach außen. Und dann ist die gemeinsame Gegnerin Nummer eins ja auch immer noch da. Generalaussprache am Mittwochmorgen - das war in dieser Legislaturperiode schon dreimal Gelegenheit für einen politischen Frontalangriff auf Angela Merkel. Also soll das auch heute, beim vierten Mal, helfen und wirken.

Und so geht Alice Weidel, die Co-Fraktionsvorsitzende, mit spitzen Schritten zum Pult, um die Kanzlerin politisch zu attackieren. Ohne Punkt und Komma zieht Weidel über die Politik der Regierung vom Leder. Nichts sei besser geworden, alles sei noch schlimmer, der Reichtum werde verschleudert in einem "Ausgabenwahn" der Regierung.

Von einem "Krieg gegen den Verbrennungsmotor" spricht Weidel, von einer "obskuren Lobbyorganisation", die Fahrverbote erzwungen habe. Sie wettert über den Atomausstieg, den Kohleausstieg, eine "hochgejubelte Elektromobilität" und warnt davor, dass die Koalition das Land erfolgreich "zu einem klimaneutralen Agrarland herunterwirtschaften" werde. Nur einem "unfassbaren Geduldsfaden" der Deutschen sei es zu verdanken, dass es noch nicht zu Massenprotesten gekommen sei.

Harte, aggressive Töne sind das, wie immer. Und wie immer trägt Weidel keinen einzigen Vorschlag vor, wie sie es in dieser Welt besser machen würde. Was nicht zum ersten Mal das Gefühl befördert, Weidels Lautstärke solle vor allem ablenken vom Verzicht auf eigene inhaltlichen Angebote. Dabei fällt nur eines auf und das wirkt neu: Persönliche Angriffe auf die Kanzlerin bleiben weitgehend aus.

Stattdessen fühlt sich Weidel gezwungen, plötzlich ganz ausführlich über die eigenen Spendenprobleme zu sprechen. Sie tut das nicht mit echtem Bedauern, sie nutzt es, um die anderen anzugreifen. Ja, es habe Fehler gegeben, aber niemand sei zu Schaden gekommen, keiner habe sich persönlich bereichert und im Übrigen habe auch der Steuerzahler keinen Schaden genommen.

Ohne dass Weidel es wollte, lenkt sie den Blick zurück auf sich selbst

Dann holt Weidel aus, um an die Fehler der anderen zu erinnern. An einen Sozialdemokraten dort, an die CDU damals, an einen Spender, der auch der FDP und den Grünen mal was gespendet habe. In diesem Augenblick fühlt sich Weidel besonders entschlossen und erhält großen Applaus aus den eigenen Reihen. Ha, die Welt ist doch in Ordnung - so steht das in diesem Moment in allen AfD-Gesichtern.

Dabei merken sie nicht, dass Weidel lauter Fälle aufzählt, in denen andere zum Teil sehr harsche Konsequenzen gezogen haben - Rücktritte inklusive. Daran denkt sie nicht, aber daran denken plötzlich sehr viele andere im Plenum. Ohne dass sie es wollte, lenkt sie den Blick zurück auf sich selbst. Das wird sie so sicher nicht geplant haben. Auch wenn ihr Co-Fraktionsvorsitzender Gauland sie nach der Rede gar demonstrativ in den Arm nimmt.

Und Merkel? Die Lieblingsgegnerin der AfD? Sie beginnt ihren Auftritt mit einem sanften Satz, der es aber in sich hat. "Das Schöne an freien Debatten ist, dass jeder über das spricht, was er für das Land für wichtig hält." Weidel hat vor allem über Spenden geredet. Die Kanzlerin wird über das Land sprechen. Schon gibt es den ersten Beifall, selbst von Liberalen und Grünen.

Es folgt ein Auftritt, wie Merkel ihn im Bundestag selten gezeigt hat. Am Anfang beginnt sie noch, das zu rühmen, was die Koalition in zwölf Monaten alles beschlossen hat. Von einer Auflistung in Kurzform spricht die Kanzlerin - und liefert dann eine Aneinanderreihung von Beschlüssen, die das Bild von der Handlungsschwäche der Koalition widerlegen sollen. Entlastung der Familien, Bekämpfung der kalten Progression, Baukindergeld, neues Kita-Gesetz, Wohnungsgipfel, Weichenstellung bei der Rente, Allianz für die Pflege, Digitalklausur des Kabinetts - was kurz ausfallen sollte, wird länger und länger. Merkels Botschaft, nicht zuletzt an die eigenen Truppen: Hört endlich auf, immer alles schlechtzureden.

Merkel hat sich offenkundig vorgenommen, die großen Themen anzusprechen

Das aber ist nur eine Art Einstieg. Im Anschluss spricht Merkel über die Digitalisierung, wie sie es im Bundestag so wohl auch noch nie getan hat. Diese werde das Land und das Leben der Menschen nicht nur umfassend verändern. Deutschland stehe hier wie bei keinem anderen Thema in einem "wahnsinnigen globalen Wettbewerb". Die Botschaft: Freunde, da kommt was auf uns zu, und wir müssen das endlich ganz ernst nehmen.

Zur Analyse gehört auch, dass es in dieser neuen Welt schon zwei Zentren gäbe, die mit Macht Einfluss auf die Entwicklungen nehmen würden. Hier das Modell USA mit einer umfassenden Datenmacht in privaten Händen, dort das Modell China, mit einer totalen Verstaatlichung aller Daten. Beides habe mit der Sozialen Marktwirtschaft deutscher Prägung wenig zu tun. Umso größer sei die Herausforderung, auch bei diesen Veränderungen "den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen". Es sei an der Zeit und dringend geboten, "nicht zuzulassen, dass die Technik den Menschen beherrscht". Andersrum müsse es bleiben.

Und weil Merkel sich dieses Mal offenkundig vorgenommen hat, die großen Probleme anzusprechen, redet sie anschließend über ein vielleicht noch größeres Thema: den unverzichtbaren Kampf für die liberale Demokratie und eine multilaterale Weltordnung. Deutschland müsse dafür streiten, müsse wieder kämpfen für die eigenen Überzeugungen.

Nach zwanzig Minuten spätestens wird klar: Heute hat sich Merkel Besonderes vorgenommen. Als ob sie Versäumnisse der vergangenen Jahre in einer einzigen Rede ausgleichen wolle, spricht sie plötzlich über die ganz großen Linien. Und sie weicht, das ist die wohl klarste Botschaft des Tages, auch beim Thema UN-Migrationspakt nicht aus, sondern liefert für alle erkennbar ihre ganz persönliche Begründung.

Dazu erinnert sie in einem ersten Schritt daran, dass die Wurzeln der Internationalen Organisation für Migration (IOM) nicht in der jüngeren Vergangenheit liege, sondern tatsächlich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Und damals sei es nicht etwa um Flüchtlinge sonst wo auf der Welt gegangen, sondern um elf Millionen Menschen, die in Europa nach einer neuen Heimat suchten. "Es war eine europäische Organisation", sagt Merkel - und ihre Ansage ist eindeutig: Tut doch nicht mehr so, als sei Europa, als sei Deutschland nie von Flüchtlingskrisen betroffen gewesen.

Das gesagt, lenkt sie den Blick auf jenen UN-Migrationspakt, der auch in der eigenen CDU heftig debattiert wird. Und macht in wenigen Sätzen klar, dass sie ihn für richtig hält und keineswegs für eine Gefahr für Deutschland, sondern für den völlig richtigen Versuch, "ein globales Problem international zu lösen". Die deutsche Souveränität würde anders als behauptet nicht berührt werden. Es gehe um internationale Zusammenarbeit, und die sei unverzichtbar.

"Das Schöne an der heutigen Zeit", so sagt es Merkel gegen Ende, sei die Tatsache, "dass es wieder klare Unterschiede gibt". Unterscheidungen zwischen denen, die glauben, alles alleine machen zu können. "Das ist Nationalismus in reinster Form", erklärt Merkel. Die Alternative seien internationale Zusammenarbeit und gemeinsame Antworten. Merkel muss es gar nicht mehr aussprechen, an diesem Vormittag weiß jeder, wo die Kanzlerin steht - und wie sie das begründet.

Es ist ein seltener Moment, in dem das so klar wird. Und es ist die dritte Etappe einer neuen Zeitrechnung: der Zeit, seitdem klar ist, dass sie als CDU-Vorsitzende nicht mehr antritt. Am 9. November sprach Merkel über die Gefahren, dass sich Fremdenhass, Spaltung und Nationalismus aufs Gefährlichste wiederholen könnten. Wenige Tage später warb sie im Europäischen Parlament für eine gemeinsame europäische Armee. Und an diesem Morgen in Berlin hat sie ihre Sicht auf Deutschlands existenzielle Zukunftsaufgaben wiedergegeben. Wie befreit wirkt sie - als sei der CDU-Vorsitz eine Last gewesen.

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Merkel Weidel Bundestag01:03
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Debatte im Bundestag
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In der Spendenaffäre versucht die AfD-Fraktionschefin, sich mit Vorwürfen gegen die CDU zu verteidigen. Die Bundeskanzlerin reagiert gelassen auf Weidels Anschuldigungen.

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