Im Streit über die Rechtsstaatlichkeit in der EU hat die künftige Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den Umgang mit den Staaten in Mittel- und Osteuropa kritisiert. "Es ist wichtig, die Debatten zu versachlichen", sagte von der Leyen im Interview mit der Süddeutschen Zeitung und anderen europäischen Medien. "In den mittel- und osteuropäischen Ländern herrscht bei vielen das Gefühl, nicht voll akzeptiert zu sein. Wenn wir die Debatten so scharf führen, wie wir sie führen, trägt das auch dazu bei, dass Länder und Völker glauben, sie seien im Ganzen gemeint, wenn einzelne Defizite kritisiert werden", sagte sie.
In Polen ist aus Sicht der EU-Kommission die Unabhängigkeit der Justiz gefährdet, Ungarn attestierte das Europäische Parlament Einschränkungen der Demokratie. "Wir alle müssen lernen, dass volle Rechtsstaatlichkeit immer unser Ziel ist, aber keiner ist perfekt", sagte von der Leyen. Finanzielle Sanktionen kämen nur als das "allerallerletzte Mittel nach vielen Stufen, die vorher kommen" infrage. Von der Leyen war am Dienstag auf Vorschlag der Staats- und Regierungschefs mit knapper Mehrheit vom EU-Parlament zur Präsidentin der EU-Kommission gewählt worden. Sie tritt ihr Amt am 1. November an.
Europäische Union:Die Versprechen der Frau von der Leyen
Die neugewählte Präsidentin der EU-Kommission hat in den vergangenen Tagen vieles zugesagt. Zu viel? Auf die Umsetzung mancher Dinge hat sie zumindest keinen Einfluss.
Im Umgang mit dem hoch verschuldeten Italien plädierte von der Leyen ebenfalls für Umsicht. "Auch hier müssen wir aus den Debatten die scharfen Emotionen rausnehmen", forderte sie. "Es gibt aus gutem Grund Regeln beim Stabilitäts- und Wachstumspakt. Die müssen eingehalten werden. Es gibt aber auch viel Flexibilität in dem Regelwerk, die man besser ausnutzen kann, um Wachstum über Investitionen zu ermöglichen", sagte sie. Im Konflikt um die Seenotrettung betonte sie "die Pflicht, auf hoher See Menschen aus Seenot zu retten". Pflicht sei aber auch, "konsequent gegen die Ursache dieser Seenot vorzugehen". Dazu gehörten auch "von Verbrechern" organisierte Transporte.
Von der Leyen mit konziliantem Ton
Auf die Forderung, dass alle EU-Staaten sich an der Aufnahme von Flüchtlingen beteiligen, wollte sich von der Leyen nicht festlegen. "Wir brauchen eine faire Lastenteilung - vielleicht auf unterschiedlichen Feldern durch unterschiedliche Länder", sagte sie. Eine Reihe von Staaten, gerade in Mittel- und Osteuropa, lehnen jedwede Aufnahme im Rahmen einer EU-weiten Verteilung ab. "Wenn wir das Thema Migration in kleine Scheiben schneiden und uns gegenseitig Vorhaltungen machen, führt das zur Blockade", warnte von der Leyen.
Die Deutsche schlägt somit in zentralen Konfliktfeldern einen konzilianten Ton an. Dies dürfte nicht zuletzt in Italien und Polen aufmerksam wahrgenommen werden. Nach dem knappen Sieg hatten Abgeordnete der in Polen regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) proklamiert, von der Leyen verdanke die Wahl ihrem Votum. Auch die Abgeordneten der italienischen Fünf-Sterne-Bewegung wollen für die Deutsche gestimmt haben. Vor der Wahl gab es heftige Kontroversen, weil es nicht gelungen war, im Rat für einen der Spitzenkandidaten die nötige Zustimmung zu gewinnen. Die Verständigung auf den zweitplatzierten Sozialdemokraten Frans Timmermans scheiterte am Widerstand Italiens und der Visegrád-Gruppe. Als Vizepräsident der EU-Kommission ist Timmermans bisher für die Rechtsstaatsverfahren zuständig.