Lettland:Wird die Krise zum progressiven Schub?

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Die Koalitionspartner sind ihm zu rückständig: Krišjānis Kariņš gab Mitte August seinen Rücktritt als Ministerpräsident Lettlands bekannt. (Foto: Mindaugas Kulbis/dpa)

Die Regierungskoalition des baltischen Lands ist zerbrochen. Nun strebt die stärkste Partei ein Bündnis mit Partnern an, die liberaler sind als die bisherigen.

Von Viktoria Großmann, Warschau

Mehr Schutz für Frauen vor Gewalt, ein Gesetz zur Gleichstellung homosexueller Paare - beides könnte in Lettland bald auf den Weg gebracht werden. In Riga wird in diesen Wochen eine neue Regierung gebildet, nachdem die bisherige Mitte-rechts-Koalition zerbrochen ist. Für das Land könnte das einen progressiven Schub bedeuten.

Erst im Frühjahr kritisierte Ministerpräsident Krišjānis Kariņš seine Koalitionspartner, weil sie im Parlament erneut der Ratifizierung der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen nicht zustimmten. Anlass der neuen Abstimmung war der Mord an einer Frau gewesen, die zuvor Monate lang von ihrem Ex-Partner bedroht und verfolgt worden war. Gegen mehrere Polizisten wird derzeit wegen Untätigkeit ermittelt.

Im Mai gab Kariņš sich noch geduldig, sagte, er hoffe, auf einen Meinungswandel innerhalb der nächsten vier Jahre. Dabei will der 58-Jährige schon seit 2019 die Ratifizierung der Konvention durchbringen. Damals wurde er erstmals Premierminister von Lettland. Bei der Wahl im vergangenen Herbst wurde seine Partei Neue Einheit mit knapp 19 Prozent Stimmenanteil stärkste Kraft.

Die Konservativen fürchten, ihr Land könnte "kosmopolitischer" werden

Doch nach monatelangen Querelen in seiner Regierung gab Kariņš vor einer Woche seinen Rücktritt bekannt. Die Neue Einheit will sich neue, liberalere Koalitionspartner suchen. Die Verhandlungen soll Sozialministerin Evika Siliņa übernehmen, die nach dem Willen der Neuen Einheit auch Premierministerin werden soll.

Die derzeitigen Koalitionspartner der Neuen Einheit täten "alles, um Dynamik auszubremsen", sagte Kariņš. Die Koalition arbeite einfach nicht zusammen. Der Bruch hatte sich spätestens seit der Präsidentschaftswahl am 31. Mai angedeutet. Die Koalition hatte sich nicht auf einen Kandidaten einigen können. Kariņš hatte seinen Parteifreund und Außenminister Edgars Rinkēvičs ins Rennen geschickt. Seinen Wahlsieg verdankt dieser zwei Oppositionsparteien - die Koalitionspartner des Premiers hingegen verweigerten ihre Stimmen. Wohl auch, weil Rinkēvičs sich schon vor Jahren öffentlich zu seiner Homosexualität bekannte. So etwas erregt in dem Land, das bisher nicht einmal eingetragene Partnerschaften kennt, noch immer Aufsehen.

Unter den Unterstützern von Präsident Rinkēvičs war die Partei "Die Progressiven", die nun in die Regierung eintreten könnten. Kariņš wollte schon länger mit dieser Partei zusammenarbeiten, die vor allem von jungen Menschen gewählt wird.

Vor der Bewährungsprobe: Der lettische Präsident Edgars Rinkēvičs muss bei den Konsultationen mit den Parteien zeigen, dass er unabhängig agiert. (Foto: Andrzej Iwanczuk/IMAGO/NurPhoto)

Die rechts-konservative Partei Nationale Allianz sieht in den Progressiven mit ihrer sozialdemokratisch-grünen Ausrichtung eine Bedrohung für Lettland. Mit ihnen in der Regierung werde die Politik "kosmopolitischer werden und allem, was mit traditionellen Werten und dem Aufbau eines lettischen Lettlands zu tun hat, feindlich gegenüberstehen", teilte Parteichef Raivis Dzintars am Wochenende mit. Er warnt vor "ultraliberalen Tendenzen", mehr Einwanderung und spricht von kremlnahen Positionen.

Dabei geht es um die starke russischsprachige Minderheit im Land, die etwa ein Viertel der Bevölkerung ausmacht. Besonders in Riga ist viel Russisch zu hören, mehr als ein Drittel der Hauptstädter nennt Russisch als Muttersprache.

Doch eines der wesentlichen Anliegen der Rechts-Konservativen ist längst beschlossene Sache: Die Umstellung des gesamten Schulunterrichts auf Lettisch. Zudem soll Russisch nach und nach als Schulfach verschwinden. Schon kündigen einige Schulen Probleme an, es werde einen Mangel an Lehrern geben, die ihre Fächer in einwandfreiem Lettisch unterrichten könnten.

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Derzeit müssen Angehörige der russischsprachigen Minderheit, die keinen lettischen Pass besitzen, Sprachtests ablegen. Bei Nichtbestehen droht ihnen die Ausweisung aus dem Land. Erst am Wochenende meldete das öffentlich-rechtliche Fernsehen, an einer Schule im Küstenort Liepāja hätten zwölf Lehrer gekündigt, welche die Lettisch-Prüfung nicht bestanden hätten.

Die Politikwissenschaftlerin Iveta Kažoka vom Rigaer Thinktank Providus sieht das weniger dramatisch. Zunächst einmal, sagt sie am Telefon, gebe es einen Schülermangel. Viele Schulen müssten schließen, "da wäre es überraschend, wenn wir auf einmal zu wenige Lehrer hätten". Wichtiger sei, dass die potenziellen neuen Koalitionspartner eine soziale Lösung vorgeschlagen hätten, welche die radikale Ausweisung aller, welche die lettische Sprachprüfung nicht bestehen, verhindert.

Die Expertin hofft auf neue politische Energie und mehr Pragmatismus

Kažoka ist zuversichtlich, was die neue Regierung angeht. "Es wird eine neue Energie geben, es können endlich Fortschritte erzielt werden." Nicht nur beim Ewigkeitsthema Istanbul-Konvention, sondern vor allem auch in sozialpolitischen Fragen. Zudem brauche das Land, wie so viele andere auch, Fachkräfte aus dem Ausland. Lettland hat seit seiner Unabhängigkeit von der Sowjetunion etwa eine Million Einwohner durch Abwanderung verloren, nicht einmal zwei Millionen Menschen leben heute in dem Land. Zudem ist die Geburtenrate gering. Doch beim Thema Einwanderungsgesetz hätten die Rechtskonservativen bisher gebremst, sagt Kažoka. Sie erwartet von der neuen Regierung in vielen Fragen "mehr Pragmatismus".

Für den neuen lettischen Präsidenten, bis eben noch selbst Mitglied der Regierung, bedeutet die Krise seine erste große Bewährungsprobe. Er muss zeigen, dass er unabhängig agiert. Denn nun ist er am Zug, nach und nach wird er nun Vertreter aller Parteien zu Konsultationen empfangen - am Montag sprach er bereits mit Sozialministerin Evika Siliņa von der Neuen Einheit und Vertretern der konservativen Union der Grünen und Bauern. Die beiden wollen weiterhin Regierungspartner bleiben. Siliņa erklärte, sie wolle eine Regierung, von der sich möglichst viele Wähler repräsentiert fühlten - das spricht für eine größere Koalition aus nun möglicherweise vier, statt bisher drei Parteien.

Präsident Edgars Rinkēvičs sprach eine klare Forderung aus: Bis 2030 müsse Lettland das durchschnittliche Wohlstandsniveau der EU erreicht haben.

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