NS-Verbrechen:"Ich sehe keine Schuld bei mir"

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Dem 93 Jahre alte Angeklagte ehemalige SS-Wachmann wird Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen vorgeworfen. Ein Urteil wird nicht vor Ende Februar fallen. (Foto: Axel Heimken/dpa)
  • Vor der Jugendkammer des Landgerichts Hamburg läuft ein Verfahren gegen den mittlerweile 93-jährigen ehemaligen KZ-Wachmann Bruno D. wegen Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen.
  • In einer mehrere Prozesstage andauernden Befragung hat die Vorsitzende Richterin versucht, die Gefühlslage des Angeklagten zu ergründen.
  • Der Angeklagte behauptet, nichts davon, was die Zeugen seit Prozessbeginn über die Zustände und Gräueltaten in Stutthof berichtet hatten, gesehen zu haben. Auch die 50 000 Menschen, die im KZ ankamen, während Bruno D. dort Wache schob, will er nicht bemerkt haben.

Aus dem Gericht von Ralf Wiegand, Hamburg

Am Ende wirkten Richterin und Angeklagter gleichermaßen erschöpft. Anne Meier-Göring, die das Verfahren gegen den heute 93 Jahre alten, ehemaligen KZ-Wachmann leitet, atmete tief aus, nachdem sie gut zwei Stunden lang versucht hatte, einen Schlüssel zum Gewissen des Angeklagten zu finden: "Ich habe keine Fragen mehr." Zuvor hatte Bruno D., dem die Staatsanwaltschaft Hamburg Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen vorwirft, wie auch schon an einigen Prozesstagen zuvor immer und immer wieder jede Verantwortung von sich gewiesen: "Ich sehe keine Schuld bei mir."

Bruno D., 93, steht seit Oktober als Angeklagter vor einer Jugendkammer des Hamburger Landgerichts, weil er von August 1944 bis Sommer 1945 im Konzentrationslager Stutthof als damals 17-Jähriger für den Wachdienst abgestellt war. Das ist unbestritten, ebenso wie die Tatsache, dass er dabei eine SS-Uniform trug - tragen musste, wie er sagt, denn "mit dem Herzen" sei er nie bei der SS gewesen; er habe sich nicht freiwillig gemeldet. Aber kann sich jemand, der als Heranwachsender seinen Wehrdienst auf dem Wachturm eines solchen Lagers verrichten musste, überhaupt Schuld sein an der Ermordung vieler Tausend Menschen in diesem Lager?

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Immer wieder hat die Vorsitzende Richterin in ihrer auf mehrere Tage verteilten Befragung von Bruno D. versucht, die Gefühlslage des Angeklagten zu ergründen, wenn man so will, sein Gewissen zu erforschen. Ihre Fragen zielten stets darauf ab, ob D. die Verbrechen, die in dem Lager begangen wurden, als solche erkannte, ob er sie ablehnte, was er dabei dachte und fühlte. In Stutthof wurden Menschen gefoltert, erschossen und vergast; sie wurden ohne Nahrung dem Hungertod überlassen und ohne medizinische Hilfe Epidemien ausgesetzt; wer arbeiten konnte, wurde ausgebeutet. "Sie haben verhindert, dass Menschen fliehen konnten", hielt die Richterin Bruno D. vor. Ob er je versucht habe, sich diesem verbrecherischen Befehl zu entziehen? Nein, sagte Bruno D., "ich war Soldat und habe Befehle ausgeführt. Dass das schon ein verbrecherischer Befehl war, Wache zu stehen, daran habe ich nicht gedacht."

An diesem Montag, dem letzten Tag der Befragung des Angeklagten durch die Richterin, rundete Bruno D. das Bild, das er in der bisherigen Verhandlung hinterlassen hat, noch einmal ab: Nichts davon, was die Zeugen seit Prozessbeginn über die Zustände und Gräueltaten in Stutthof berichtet hatten, habe er gesehen. Er habe "den Zaun" bewachen und darauf achten müssen, dass niemand floh. Mehr nicht. Dass Menschen in diesem elektrifizierten Zaun starben, bei Fluchtversuchen oder weil sie sich auf diese Weise aus Verzweiflung das Leben nahmen, wie ein Zeuge berichtete? "Das habe ich nie gesehen", sagte Bruno D. Den riesigen Berg von Schuhen, den die Befreier im April 1945 in dem Lager fanden und filmten, "haben Sie diesen wachsenden Berg von Schuhen gesehen, Herr D.?" Nein, habe er nicht.

Ob er gesehen habe, dass Gefangene von Hunden gerissen wurden, wie ein Zeuge berichtete? Er habe zwar gehört, dass es Hunde im Lage gegeben haben soll, "aber ich habe keinen Hund gesehen", antwortete D. Und die Menschen, die nach ihrer Ankunft im Schlamm am Haupttor des Lagers gekauert hätten, erschöpft und ausgehungert, wie ein Zeuge berichtete? "Ich habe mich gewundert", sagte der Angeklagte, "ich habe eine Schlammwüste nicht gesehen." Die morgendlichen Appelle habe er zwar beobachten können, das Antreten der Häftlinge vor ihren Baracken - aber die sadistischen Folter-Spaliere, die Selektionen, das stundenlange Herumstehen ohne Kleidung in der Kälte, von dem Zeugen berichteten? "Die Appelle liefen immer ruhig ab", sagte D., gedauert hätten sie vielleicht eine halbe Stunde oder eine Stunde.

"Keiner wäre gerettet worden."

Er blieb auch dabei, nie die Ankunft auch nur eines Massentransports gesehen zu haben, sogar als die Richterin ihm vorhielt, dass Dokumente Auskunft darüber gäben, wie viele Menschen allein von August 1944 bis Jahresende in Stutthof angekommen seien: "44 000 neue Häftlinge. Und im Januar 1945 noch einmal 10 000. In der Zeit, in der Sie da waren, müssen 50 000 Menschen angekommen sein. Davon haben Sie nichts mitbekommen?" Bruno D.: "Ich kann mich da nicht erinnern. Ich habe ja niemanden in Empfang genommen."

Auch von den Feiern zu Weihnachten oder Silvester, die es laut Kommandanturbericht in dem Lager für die SS-Leute gegeben haben soll, will er nichts gewusst haben, an gemeinsamen Freizeitaktivitäten nicht teilgenommen haben, nie mit Kameraden über das Geschehen im KZ gesprochen haben. Dass mit neuen Gefangenentransporten auch neue Wachleute nach Stutthof kamen, sogar in dieselbe Kompanie, in der er diente - Bruno D. sagte, so etwas habe er nicht mitbekommen. Irgendwann war es der Richterin genug: "Entweder Sie lügen uns an", schloss sie, "oder Sie haben das verdrängt. Oder es sind Dinge passiert, die sie uns nicht sagen wollen. Dass Sie doch Ihr Gewehr zum Einsatz gebracht haben." Der Angeklagte bestreitet das.

Bruno D. beharrt darauf, sich nie freiwillig für den Dienst in Stutthof gemeldet zu haben, er sich diesem aber auch nie habe entziehen können, etwa durch ein Versetzungsgesuch. Das habe es nicht gegeben, "dadurch hätte ich mich nur selbst in Gefahr gebracht". Die Richterin hielt im entgegen, dass nach Kenntnis von Historikern kein einziger SS-Mann wegen des Wunsches auf Versetzung umgebracht worden sei: "Haben Sie überhaupt einmal gefragt?" Nein, sagt Bruno D., denn was hätte es gebracht? "Dann wäre ein anderer gekommen, und niemandem wäre gedient gewesen. Keiner wäre gerettet worden."

Am Ende näherte sich die emotional aufgebrachte Richterin Meier-Göring der großen Frage nach Schuld sogar mit einem gewagten Vergleich. Angenommen, sagte sie, im Gerichtssaal stünde jemand auf und drohte, mit einer Waffe alle zu erschießen. Sie, die Richterin, gäbe den Justizbeamten daraufhin die Anweisung, die Türen von außen abzuschließen, und diese würden diesem "schwachsinnigen Befehl" auch noch Folge leisten: Wer wäre außer dem Schützen und ihr selbst wegen des Befehls zum Absperren der Türen dann Schuld am Tod dieser Menschen im Saal? Hätten diese Justizbeamten Schuld? Nein, sagte Bruno D.

Das Verfahren wird an diesem Dienstag fortgesetzt. Ein Urteil wird nicht vor Ende Februar 2020 fallen.

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