NS-Verbrechen:"Jetzt wird alles wieder aufgewühlt"

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Ein Wachturm am Stacheldrahtzaun des KZ Stutthof. Das Büro von Irmgard F. lag am Haupteingang. (Foto: Imago)
  • Der ehemalige KZ-Wachmann Bruno D., heute 93 Jahre alt, steht wegen Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen vor Gericht.
  • Um bei der Ermordung geholfen zu haben, müsste er gewusst haben, dass gemordet wurde.
  • D. sagt, er habe Leichen gesehen, aber nicht, wie die Menschen gestorben seien.

Von Ralf Wiegand, Hamburg

Bruno D. kann sich gut erinnern, sehr gut sogar. Bis ins Detail schildert der Mann Vorgänge, die fast 80 Jahre zurückliegen. Wie er, als er seine Ausbildung in Danzig machte, bei seinem Lehrmeister gewohnt habe, mit einem Gesellen zusammen. Dass der Geselle aus Bromberg kam. Auch dass er zweimal aufgefordert worden sei, sich freiwillig zur SS-Division Hitlerjugend zu melden, weiß er noch genau. Beim ersten Mal habe ein Offizier im Range eines Leutnants den Jugendlichen einen Vortrag gehalten, dass es die Pflicht eines jeden deutschen Jungen sei, Soldat zu werden, und wie schön das Soldatenleben sei. Dieser Offizier habe gehinkt. Zwei Posten an der Tür hätten verhindert, dass er geht, weil er noch nicht unterschrieben gehabt habe. Er habe dann nur so getan, als würde er das Aufnahmeformular doch unterzeichnen, es aber gefaltet und heimlich eingesteckt. "Ich hatte keine Lust, mich freiwillig zu melden", sagt Bruno D., "wer wollte das schon. Und das im Krieg."

Das alles weiß er noch, Bruno D., heute 93 Jahre alt, angeklagt der Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen. Nachdem er zwar seinen Eintritt in die SS erfolgreich verhindert hatte und später wegen eines Herzfehlers als untauglich für den Kriegsdienst eingestuft worden war, landete er im April 1944 doch als SS-Wachmann im Konzentrationslager Stutthof, in dem Juden, politische Gefangene und andere zum Feind des Regimes erklärte Menschen getötet wurden. Hier verblasst die Erinnerung von Bruno D. "Ist schon ein paar Jahre her", sagt er einmal.

Die Richterin versucht, den Bildern des Schreckens näher zu kommen

Der Prozess gegen D. vor dem Hamburger Landgericht ging am Montag in den dritten Verhandlungstag, er gehört Bruno D. Der alte Mann liest eine kurze Erklärung vor, die er selbst verfasst habe, wie er sagt. Es tue ihm sehr leid, welches Leid die Menschen dort hätten ertragen müssen, sagt er, und dass er seinen Wehrdienst "an einem solchen Ort des Grauens" habe leisten müssen. Er habe erfolglos versucht, in die Küche oder in die Bäckerei versetzt zu werden, und dann keine Möglichkeit mehr gesehen, "mich dem Dienst zu entziehen". Er habe nie von der Waffe Gebrauch gemacht. "Die Bilder des Schreckens haben mich mein Leben lang verfolgt."

Fortan versucht die Vorsitzende Richterin geduldig, diesen Bildern des Schreckens näher zu kommen. Was er gesehen habe. Was er empfunden habe. Mit wem er darüber gesprochen habe. Ob er sich an den Geruch erinnern könne, den Geruch aus dem Krematorium, von dem andere Zeitzeugen berichteten, man vergesse ihn sein Lebtag nicht. "Das kann ich nicht sagen, wie die Luft war", sagt Bruno D.

Er habe nicht gesehen, ob die Leute umgebracht wurden oder "ob sie normal gestorben sind". Erst gegen Ende, in den letzten Monaten, habe er gesehen, wie die Leichen aus den Baracken geschleppt und auf einen Handwagen geworfen worden seien. "Nicht gelegt. Geworfen", sagt Bruno D. Frauen, nackt und ausgemergelt. Ob die Gefangenen Tätowierungen trugen, ein P, den Davidstern? Könne er nicht sagen. Ob er Blut gesehen habe, Schussopfer? Nein.

D. will Leichen gesehen haben, aber nicht, wie gemordet wurde

Bruno D. war damals 17, am Ende der Dienstzeit 18 Jahre alt. Zu Hause, sagt er, habe man über Politik nie geredet, kein Radio, keine Zeitung, er selbst sei ein Einzelgänger gewesen, schon immer. Was er über die Judenvernichtung wusste? Über Juden habe er gewusst, was "der Volksmund" sagte, antwortet er, dass sie am Krieg schuld seien und so etwas, und dass sie "von ihrem Eigentum weggebracht" würden. Er habe das falsch gefunden. Aber wohin sie kamen, habe er nicht gewusst. Und nach dem Krieg? "Ich war froh, bevor jetzt dieses Verfahren hier begann, dass ich das ziemlich verarbeitet hatte. Jetzt wird alles wieder aufgewühlt. So habe ich mir mein Alter nicht vorgestellt." Ob er nachvollziehen könne, dass die Überlebenden und Angehörigen das auch ihr Leben lang tragen müssten, fragt die Richterin. Es sei schon so viel darüber gesprochen und verhandelt worden, sagt Bruno D.

In dem Prozess geht es darum, ob sich Wachmann Bruno D. schuldig gemacht hat im Lager Stutthof in der Nähe von Danzig. Um bei der Ermordung geholfen zu haben, müsste er gewusst haben, dass gemordet wurde. D. sagt, er habe Leichen gesehen, aber nicht, wie die Menschen gestorben seien. Mehrere Nebenklägeranwälte haben am Montag beantragt, dass das Gericht nach Stutthof reisen solle, um sich selbst ein Bild zu machen.

© SZ vom 22.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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