Pro-Palästina-Demonstrationen:"Passt auf, wo ihr mitlauft"

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Pro-Palästina-Demonstranten am Berliner Alexanderplatz. (Foto: LIESA JOHANNSSEN/REUTERS)

Die Zentralräte der Juden und der Muslime verurteilen antisemitische Verstöße bei Pro-Palästina-Aufmärschen in mehreren deutschen Städten. Die Polizei meldet zahlreiche Strafanzeigen, Politiker fordern eine konsequente Antwort des Staates.

Nach den Demonstrationen am Wochenende in Berlin, Düsseldorf und Essen fordert der Zentralrat der Juden in Deutschland ein entschiedeneres Eingreifen gegen Judenfeindlichkeit. "Die antisemitischen, häufig offen islamistischen Aufmärsche des heutigen Tages auf deutschen Straßen zeigen: Das Samidoun-Verbot war wichtig, aber nun muss den weiteren islamistischen Organisationen das Handwerk gelegt werden", heißt es in einem am Samstagabend veröffentlichten Post auf X (vormals Twitter): "Keine falsch verstandene Toleranz mit Islamisten!"

Der Zentralrat der Muslime in Deutschland verurteilte antisemitische Vorfälle bei propalästinensischen Demonstrationen und rief zu Vorsicht bei der Teilnahme an Kundgebungen auf. Es gebe "ganz klare Verstöße, antisemitische Judenhass-Verstöße", sagte der Zentralrats-Vorsitzende Aiman Mazyek am Samstag im Deutschlandfunk. "Sie müssen geahndet werden." An die Muslime appellierte er: "Passt auf, wo ihr mitlauft." Es gebe Gruppen, die solche Demonstrationen nutzten, um Parolen gegen Juden und Antisemitismus zu skandieren. "Das müssen wir nicht so haben."

In Berlin und Düsseldorf waren am Samstag und in Essen schon am Freitag Tausende Menschen auf die Straße gegangen, um für Frieden in Gaza zu demonstrieren. In Düsseldorf gingen nach Polizeiangaben 17 000 Menschen auf die Straße, in Berlin etwa halb so viele. Dabei waren auch offen israelfeindliche Plakate zu sehen. In Essen wurden die 3000 Teilnehmer zu Beginn des Marsches über Lautsprecher aufgefordert, Männer und Frauen zu trennen. So kam es, dass die meisten Demonstrantinnen hinter den männlichen Teilnehmern durch die Stadt marschierten. Dabei riefen sie wiederholt "Allahu akbar" ("Gott ist groß") und hielten Schilder in die Höhe, die die Einheit aller muslimischen Gläubigen und die Errichtung eines Kalifats in Deutschland forderten. Einzelne Demonstrantinnen streckten den rechten Zeigefinger in die Luft; diese Geste gilt auch als Zeichen der Terrororganisation "Islamischer Staat". Mehrere schwarz-weiße Transparente und Fahnen erinnerten in ihrer Gestaltung ebenfalls an Darstellungen des IS.

Für NRW-Innenminister Reul haben die Demos "eine neue Qualität" erreicht

Die Polizei berichtete aus mehreren Städten, dass es Strafanzeigen gebe wegen des Verdachts der Volksverhetzung und der Relativierung des Holocaust. Allein in Berlin leitete die Polizei nach eigenen Angaben 30 Ermittlungsverfahren ein. Auch Politiker aus Bund und Ländern reagierten schockiert auf einige Begleiterscheinungen der Demonstrationen und forderten eine konsequente Antwort des Staates. "Offen gestanden bin ich entsetzt", sagte Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) der Bild am Sonntag. Erst kürzlich habe er sich an die Landesjustizminister und indirekt an die Landesinnenminister gewandt und eine entschlossene und entschiedene Polizeitaktik angeregt: "Das Ziel muss sein, die Identitäten von Verdächtigen festzustellen und Beweismittel zu sichern, damit es schnell zu Strafverfahren kommen kann."

NRW-Innenminister Herbert Reul sieht in den Demonstrationen "eine neue Qualität" erreicht: "Ein derart deutliches Werben für islamistische Ziele auf offener Straße war bisher in NRW nicht feststellbar." Wer auf Straßen den Kalifat-Staat ausrufe, habe die demokratische Grundordnung nicht verstanden: "Wir werden die Auflagen dafür noch mal genau überprüfen und gegebenenfalls noch enger fassen. Und vor allem werden wir den Bund auffordern, Verbote weiterer hier relevanter islamistischer Vereinigungen rechtlich prüfen zu lassen." CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt sprach von gefährlichen Entwicklungen mitten in Deutschland. Es brauche eine Strafrechtsverschärfung mit Mindestfreiheitsstrafen bis zu Passentzug und Abschiebung.

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Der Essener Oberbürgermeister Thomas Kufen bedauerte, dass "Islamisten, Antidemokraten und Judenhasser" geschützt durch die im Grundgesetz garantierte Versammlungsfreiheit durch Essen ziehen durften: "Das ist nur schwer erträglich." Die Essener Polizei kündigte an, man werde die freitägliche Demonstration nachträglich analysieren und deren "strafrechtliche Relevanz" prüfen. Es habe sich herausgestellt, dass das Motiv einer Pro-Palästina-Versammlung nur vorgeschoben gewesen sei. Stattdessen hätten die Organisatoren eine religiöse Veranstaltung durchgeführt. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) forderte unterdessen ein strikteres Vorgehen der Versammlungsbehörden gegen Palästina-Proteste in Deutschland. "Angesichts des enormen Kräfteverschleißes bei uns Polizisten, darf es keine großen Aufzüge geben, sondern nur noch stationäre kleine Kundgebungen", sagte GdP-Chef Jochen Kopelke dem "RedaktionsNetzwerk Deutschland".

Auch in London und anderen britischen Städten gingen in mehreren Städten Zehntausende auf die Straße und forderten eine sofortigen Waffenstillstand in Gaza. In der US-Hauptstadt Washington gab es eine Großdemonstration. Die Veranstalter sprachen von der größten propalästinensischen Demonstration in der Geschichte der Vereinigten Staaten, an der 300 000 Menschen teilgenommen hätten.

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