Kriegsverbrecher Slobodan Praljak:Wenn der Gerichtssaal zum Tatort wird

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Der Moment, bevor der Gerichtssaal zum Tatort wird: Slobodan Praljak (m.) und seine Mitangeklagten. (Foto: AP)
  • Der Suizid von Slobodan Praljak vor laufenden Kameras im Gerichtssaal eröffnet Raum für politische Instrumentalisierung und Verschwörungstheorien.
  • In Kroatien geht Praljaks vermeintliches Kalkül bereits auf, sich mit dem Gifttod zum Märtyrer zu stilisieren; viele Flaggen dort hängen auf Halbmast.
  • In Den Haag rätselt man indes immer noch, wie der Kriegsverbrecher die tödliche Substanz unbemerkt in den Gerichtssaal bringen konnte. War womöglich sogar seine Anwältin in den Plan eingeweiht?

Von Peter Münch, Wien, und Ronen Steinke, Berlin

Der Gerichtssaal ist zum Tatort geworden, und am Tag danach gibt es nur eine dürre Auskunft der niederländischen Staatsanwältin: "Alles, was ich fürs Erste sagen kann, ist, dass eine chemische Substanz in diesem Behälter war, die den Tod verursachen kann", sagte Marilyn Fikenscher der Nachrichtenagentur AP. Ihr obliegt nun die Aufgabe, Licht ins Dunkel der Selbsttötung zu bringen, den der bosnisch-kroatische General Slobodan Praljak unmittelbar nach seiner Verurteilung zu 20 Jahren Haft im Haager UN-Tribunal inszenierte. Aufgesprungen war er, hatte gegen das Urteil protestiert und dann ein braunes Fläschchen mit Gift zum Mund geführt.

Gewiss ist ein Freitod immer ein Drama. Doch wenn eine solche Tat vor laufenden Kameras am Ende eines weltweit beachteten Prozesses geschieht, dann ist das zugleich ein Vorgang, der obendrein viel Raum eröffnet für politische Instrumentalisierung und Verschwörungstheorien.

In Den Haag selbst geht es zunächst um die Frage, wie der Angeklagte die Substanz unbemerkt in den Gerichtssaal bringen konnte. Beschuldigte werden zweimal durchsucht, beim Verlassen des Untersuchungsgefängnisses und bei der Ankunft am Gericht. Aber der Fokus liegt auf Waffen, mit denen sie andere gefährden könnten; nicht auf Nahrungsmitteln oder Getränken, die sie mit sich führen dürfen. Kurz bevor ein Angeklagter vor den Richtern auftritt, bekommt er zudem ein paar ungestörte Minuten mit seinem Verteidiger in einem Nebenraum. Anwälte müssen in der Regel nur durch Metalldetektoren. Gift wird da nicht erkannt.

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Der in Den Haag verurteilte bosnisch-kroatische Kriegsverbrecher Slobodan Praljak ist tot. Er hatte nach der Urteilsverkündung im Gerichtsaal eine Flüssigkeit getrunken, seiner Anwältin zufolge handelte es sich um Gift.

War die Anwältin eine Mitwisserin?

Ob Praljaks Anwältin eingeweiht war, ob sie ihm gar half bei dem Suizid, das muss nun erst die Polizei aufklären; eine Straftat wäre es übrigens nicht, ein Suizid ist nicht illegal. Es war Praljaks Anwältin, die den Richtern auf Englisch sagte, er habe "Gift" genommen. Aber das macht sie nicht zwingend zur Mitwisserin. Denn Praljak hatte zuvor dasselbe auf Serbokroatisch gesagt. Sie übersetzte.

Auch in der Untersuchungshaft gäbe es Möglichkeiten zur Übergabe, auch dort werden Besucher in der Regel nur nach Metall und Waffen durchsucht. Seine 13 Jahre in Den Haag verbrachte Praljak in keinem Hochsicherheitstrakt, sondern in dem Hafthaus für mutmaßliche Kriegsverbrecher im Haager Vorort Scheveningen. Ein Gerichtsinsider in Den Haag weist darauf hin, es sei denkbar, dass Praljak das Gift schon seit Jahren in seinem Besitz hatte, zumal bei einigen Toxinen schon winzige Ampullen genügen. Man denkt an Zyankali und an den NS-Verbrecher Hermann Göring, angeklagt in Nürnberg. Er war in der Lage, sich mit einer solchen Kapsel das Leben zu nehmen, obwohl die Alliierten riesigen Überwachungsaufwand getrieben hatten, um Suizide zu verhindern.

In Den Haag war die Aufsicht nie so streng, auch nach dem Schock von 2006 nicht: Der ehemalige serbische Präsident Slobodan Milošević starb damals in seiner Untersuchungshaftzelle, nachdem er monatelang seine Herzmedikamente in falscher Weise eingenommen hatte. In voller Absicht? Ganz aufklären ließ sich später nie, was in Milošević' Kopf vorgegangen war; aber bei vielen in der Justiz blieb der Eindruck eines Freitods auf Raten. Zudem hatten sich zuvor bereits zwei Angeklagte in ihren Zellen in Den Haag erhängt: Milan Babić im März 2006 und Slavko Dokmanović 1997.

Der Schock über Praljaks Tod ist in der internationalen Justiz groß, allerdings nicht so gewaltig wie damals bei Milošević. Der war als Stratege der Jugoslawienkriege bedeutsamer, und ihm war es - zumindest sofern man der Suizidthese folgt - tatsächlich gelungen, sich seinem Urteil zu entziehen. Er starb als Unbestrafter, kein Richter hat ihn je schuldig sprechen können. Das hat nun Praljak nicht einmal versucht. Stattdessen hat der Kroate erst den letztinstanzlichen, damit rechtskräftigen Schuldspruch gegen sich angehört.

In Kroatien allerdings geht sein vermeintliches Kalkül auf, sich mit dem Gifttod zum Märtyrer zu stilisieren. Praljak habe eine Botschaft an das UN-Tribunal senden wollen, dass seine Verurteilung ungerecht sei, sagte Ministerpräsident Andrej Plenković. In seiner Kondolenzadresse an die Familie lobte er den General als Patrioten, der immer das getan habe, "von dem er glaubte, es war das Beste für sein Volk". Das Haager Urteil bezeichnete er als "große moralische Ungerechtigkeit".

Flaggen auf Halbmast im kroatischen Teil von Mostar

Der Regierungschef trifft damit den Nerv eines Großteils der politischen Klasse und der Bevölkerung einschließlich der kroatischen Gebiete in Bosnien. Im kroatischen Teil von Mostar wurden zu Ehren Praljaks die Flaggen auf Halbmast gesetzt, Hunderte Menschen zündeten Kerzen an und beteten für den Toten. Dragan Čović, der kroatische Vertreter im dreiköpfigen bosnischen Staatspräsidium, sagte, das Urteil sei "ein Verbrechen gegen alle Kroaten in Bosnien-Herzegowina". In Zagreb kam am Donnerstag das Parlament zu einer Schweigeminute zusammen.

Kritik aus der Opposition gegen solche Ehrbezeugungen für einen verurteilten Kriegsverbrecher gab es nur verhalten. Žarko Puhovski, Professor für Politische Philosophie an der Universität Zagreb, sieht darin "eine primitive nationalistische Homogenisierung". Er beklagt im Gespräch mit der SZ die Rückbesinnung auf den Nationalismus im EU-Mitgliedsland Kroatien.

Der Publizist Nenad Popović kritisiert den "Zynismus des politischen Alltags". Vor zehn Tagen noch habe ganz Kroatien über das Haager Urteil gegen den bosnisch-serbischen General Ratko Mladić gejubelt, nun werde das gleiche Gericht verdammt. Es sei überdies "moralisch unvertretbar", wenn eine persönliche Tragödie wie eine Selbsttötung nun "vordergründig ausgenutzt" werde für politische Interessen.

© SZ vom 01.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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