Kämpfe im Gazastreifen:Was Israels Führung unter der "neuen Phase" des Krieges versteht

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Ein Screenshot von Videomaterial der israelischen Armee zeigt Panzer im Gazastreifen. (Foto: IMAGO/Chen Junqing/IMAGO/Xinhua)

Erstmals bleiben israelische Panzer nach einem Vorstoß im Gazastreifen. Ministerpräsident Netanjahu schwört die Bevölkerung auf "lange und schwierige" Kämpfe ein. Angehörige fürchten nun umso mehr um das Leben der Hamas-Geiseln.

Von Peter Münch, Tel Aviv

Körnige Fotos zeigen Panzer im Wüstensand: In der Nacht zum Samstag sind israelische Truppen in den Gazastreifen eingedrungen. Nicht zum ersten Mal ist dies geschehen in diesem seit mehr als drei Wochen tobenden Krieg. Doch diesmal ist es kein kurzer, schneller Vorstoß. Die Panzer sind gekommen, um bis auf Weiteres zu bleiben. Der Krieg am Boden ist damit eröffnet - nicht mit der vorab viel diskutierten großen Offensive, sondern in einem ersten Schritt, dem ein stetig ausgebauter Einsatz folgen dürfte. Überraschungen aller Art aber sind nicht ausgeschlossen, sondern Teil der Strategie.

Klar ist: Der Gaza-Krieg ist in eine "neue Phase" getreten. Auf diese Sprachregelung hat sich die politische und militärische Führung in Israel geeinigt, und um diese zweite Phase zu markieren, trat am Samstagabend das dreiköpfige israelische Kriegskabinett gemeinsam vor die Presse. Premierminister Benjamin Netanjahu schwor die Nation dabei auf einen "langen und schwierigen Krieg" ein, den er als "unseren zweiten Unabhängigkeitskrieg" bezeichnete. Zwei Ziele definierte er: die Zerstörung der Hamas und die Rettung der in den Gazastreifen verschleppten Geiseln, deren Zahl nach neuen Erkenntnissen auf 230 erhöht werden musste.

(Foto: SZ-Grafik)

Nach offizieller Lesart soll die Bodenoperation zusätzlich zu den mit aller Wucht fortgesetzten Luftangriffen die Hamas dazu bringen, die Geiseln freizulassen oder eine Befreiungsaktion zu ermöglichen. "Je größer der Druck, desto größer ist die Erfolgschance", so wird Netanjahu von der Jerusalem Post zitiert.

Die Angehörigen der Geiseln befürchten jedoch das genaue Gegenteil. Der Beginn des Bodeneinsatzes hat die Familien deshalb alarmiert. "Keiner aus dem Kriegskabinett hat sich die Mühe gemacht, sich mit den Familien der Geiseln zu treffen, um zu erklären, ob die Bodenoperation das Wohlergehen der Geiseln gefährdet", hieß es in einer Erklärung des Familien-Forums, in dem sich die Angehörigen zusammengeschlossen haben.

Erst nach schweren Vorwürfen und der Drohung, eine große Protestveranstaltung zu organisieren, traf sich Netanjahu nun kurzfristig mit Vertretern der Angehörigen. Sie forderten hinterher, dass Israel nichts unternehme, was die Geiseln gefährden könne. Ihr Lösungsvorschlag steht unter dem Rubrum "alle gegen alle" - eine Entlassung von bis zu 6000 palästinensischen Häftlingen aus israelischen Gefängnissen im Gegenzug für die Freilassung der Geiseln. Dazu wird die Regierung kaum bereit sein, aber sie steht vor einem Dilemma, in dem sich Moralisches, Militärisches und Politisches vermischen. Dies wird weiter Druck erzeugen.

Die Bemühungen Katars um eine groß angelegte Geiselfreilassung, die vorige Woche noch als einer der Gründe für eine Verzögerung der Bodenoffensive genannt worden waren, müssen nun wahrscheinlich erst einmal hintanstehen. In Doha sprach ein Vertreter des Außenministeriums von einer "Eskalation", die Verhandlungen in der Geiselfrage "erheblich erschweren" würde.

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Der zumindest auf den ersten Blick vorsichtige Beginn des Bodeneinsatzes dürfte verschiedene Gründe haben. Zwar ist die Nation auf eine gefahrvolle Mission eingestimmt. "Es gibt keinen Erfolg ohne Risiko, und es gibt keinen Sieg, ohne dass man dafür einen Preis bezahlt", erklärte Armeechef Herzi Halevi am Wochenende. Aber vorrangig wird es den israelischen Militärplanern darum gehen, die eigenen Verluste so gering wie möglich zu halten - und nicht blindlings in Fallen und Hinterhalte der Hamas zu tappen. Israel stellt sich deshalb auf einen langen Krieg ein, und der kann am Boden auch langsam beginnen.

Zweitens muss Israels Armee nicht nur auf den Gazastreifen im Süden schauen, sondern die Entwicklung im Norden an der Grenze zu Libanon im Blick behalten. Auch dort wird seit drei Wochen beständig, aber noch unterschwellig gekämpft. Nun will man der Hisbollah-Miliz und deren Paten in Iran mit dem Vorgehen in Gaza keinen allzu dramatischen Vorwand liefern, diese zweite Front eskalieren zu lassen. Aus Teheran kam dennoch prompt die Drohung von Regierungschef Ebrahim Raisi, die Israelis hätten nun "die roten Linien überschritten, die alle zum Handeln zwingen könnten". Doch Israels militärische Stärke plus zwei von den USA entsandte Flugzeugträger könnten hier für Abschreckung sorgen.

Israel warnt: "Zeitfenster" zur Flucht schließt sich schnell

Konzentrieren dürften sich die Bodenkämpfe zunächst auf den nördlichen Teil des Gazastreifens. Seit mehr als zwei Wochen schon hat Israel die dort lebenden 1,1 Millionen Bewohner aufgefordert, sich gen Süden in Sicherheit zu bringen. Am Wochenende wurde das noch einmal dringlich wiederholt mit der Warnung, dass sich "das Zeitfenster" zur Flucht schnell schließe und dass das Gebiet nördlich von Wadi Gaza nun "zum Schlachtfeld" werde. Vermutlich als Anreiz angekündigt wurde von Israels Militär auch, dass die Lieferung von Hilfsgütern in den südlichen Gazastreifen deutlich verstärkt werden solle.

Die Lage der 2,2 Millionen Bewohner des palästinensischen Küstenstreifens wird von den Vereinten Nationen als katastrophal bezeichnet. Von Plünderungen wird berichtet. Zum Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung trug noch bei, dass zwischenzeitlich nach heftigem israelischem Bombardement die gesamte Kommunikation über Telefon und Internet zusammengebrochen war. Während sich Israel nun mit Beginn des Bodeneinsatzes auf einen langen Krieg in Gaza einstellt, steigt so auf internationaler Ebene der Druck für eine Waffenruhe aus humanitären Gründen.

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