Klimapolitik:Die Deutschen haben die Pflicht, ungehorsam zu sein

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Die Jugend lässt sich nicht die Stimmung verderben, Beharrlichkeit scheint eine neue Tugend zu sein: Klima-Demo in Hamburg. (Foto: dpa)

Der Kampf der Jugend gegen den Klimawandel zeigt: Die Demokratie braucht die moralische Auflehnung der Zivilgesellschaft, um zu überleben.

Kolumne von Jagoda  Marinić

Es ist Freitag und Zeit, sich auf all die Plätze dieser Republik zu begeben, an denen sich heute die Jugend trifft, ihre Zukunft zu retten. Ich war am Freitag vor Pfingsten in Berlin am Invalidenplatz. Einmal musste nicht Schule geschwänzt werden, um Slogans für das Klima zu singen. Da demonstrierte eine gut gelaunte Jugend, die ahnt: Sie wird viel gelobt und doch politisch ignoriert. Ihre Wirkmacht entfaltete sie bei den jüngsten Wahlen, doch die Regierenden stellen sich taub. Die Jugend lässt sich nicht die Stimmung verderben. Beharrlichkeit scheint eine neue Tugend zu sein. Die Älteren hingegen lassen auf sich warten: Was wäre, wenn die Eltern und Großeltern dieses Landes einen Freitag lang alles stehen und liegen ließen, um die Zukunft ihrer Kinder und Enkelkinder in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken?

"Fridays for Future" ist nur ein Beispiel für eine der wichtigsten Fragen der Gegenwart: Wie viel Ungehorsam verträgt eine Demokratie? Wie viel braucht sie, um zu überleben? Henry David Thoreau schrieb dazu schon 1849 eine Art Bürgerbibel "Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat". Der schöne englische Titel lautet: "Civil Disobedience". Ziviler Ungehorsam. Es ist ein Buch, das wiedergelesen werden sollte, weil es an das Gewissensrecht erinnert, etwas, das derzeit als "moralisieren" abgetan wird.

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Kommentar von Karin Janker

Moral! Wer sich moralisch gibt, will doch nicht mehr diskutieren! Wer moralisch argumentiere, segne sich selbst den eigenen Standpunkt ab und sei nicht offen für Diskurs, behaupten einige. Es lässt sich jedoch auch das Gegenteil beobachten: Argumente, die nicht ins Weltbild passen, werden wegen moralischer Überlegenheit abgetan, um sich einer neuen Realität nicht stellen zu müssen.

Da kommt beispielsweise ein Rezo mit blauem Haar über Youtube auf unsere Bildschirme, fasst ein paar Statistiken locker zusammen, und das Land steht kopf. Reicht in Deutschland so ein bisschen kritischer Ungehorsam und Autonomie gegenüber dem Mainstream, und schon schwadroniert AKK, bald Kanzlerkandidatin, von Einschränkungen der Meinungsfreiheit in Wahlkampfzeiten? Wann genau dürften Bürgerinnen ihre Kritik denn äußern? Will man noch das Medium festlegen, möglichst eines, das nicht viral geht vermutlich? Die alte Holzkiste auf dem heimischen Markt vielleicht?

Deutschland ist das einzige Land, in dem das Reden über die Schulpflicht bald so viel Raum einnimmt wie das Reden über Klimaziele. Es wird gelassen an der Fakten- und Stimmungslage vorbeiregiert. Auf der Berliner Demo sagte einer der Organisatoren: "Während wir hier stehen, entscheiden die Regierenden gerade wieder einmal, dass sich nichts ändern wird." Er wurde mit gut gelaunten Slogans belohnt, und es war schwer auszumachen, ob er damit den traurigsten oder den hoffnungsvollsten Moment dieser Demonstration geschaffen hatte.

Wer dreht nun, wie Rezo, ein Video über Horst Seehofer und sein Abschiebegesetz?

Weniges wäre zerstörerischer, als Demonstrationen zu verharmlosen, nur weil sie kreativ daherkommen. Kaum eine Botschaft an diese Jugend wäre verheerender als: Solange ihr gut gelaunt bleibt, demonstriert ruhig weiter, politische Folgen hat Protest jedoch erst mit den Mitteln von Pegida, wenn ihr mit Galgenpostern und Wuttiraden marschiert, oder wie die Gelbwestenbewegung - die ihre Forderungen mit Gewalt durchsetzte. Demokratie braucht Ungehorsam, doch kommt er kreativ und leicht daher, wird er belächelt. Als wäre Deutschland nicht das Land, in dem sich die Friedensbewegung mit Lichterketten durch die Straßen zog.

Zurück zu Thoreau, der wieder mehr gelesen werden sollte. Er schreibt Sätze, die nach Pink Floyds Song "Welcome to the Machine" klingen. Welche Maschine? Viele funktionieren heute wie gut geölt, supersozialisiert von klein auf. "Mach dein Leben zu einem Gegengewicht, um die Maschine aufzuhalten", so eines der berühmtesten Zitate von Thoreau. Rezo hat in seinem Video die irrationale Politikmaschine sichtbar gemacht, die arbeitet, als gäbe es keine Fakten zur Klimakrise. Die Verantwortlichen empören sich über die Folgen der Aufklärung statt über sich selbst.

Wer dreht nun, wie Rezo, ein Video über Bundesinnenminister Seehofer, der in einem verschachtelten Matroschka-Einwanderungsgesetz ein Abschiebegesetz durchbekommt, das Flüchtlingshelfer kriminalisiert? Nebenher noch ein wenig abhören, Bürger belauschen - und fertig ist der Superstaat. Solche Gesetze sind Handschellen, die ein Staat dem zivilen Ungehorsam anlegt, Mittel gegen das Vertrauen in die Gewissensentscheidung.

Der israelische Bestsellerautor Yuval Noah Harari warnte unlängst vor dem totalitärsten aller totalitären Staaten, sobald digitale Diktaturen ihre Möglichkeiten ausschöpften. Solche Warnungen sind kein Ausdruck von Fortschrittsfeindlichkeit, sondern Fragen nach Freiheit. Demokratische Regierungen müssen sich diesen Freiheitsfragen im Zuge der Digitalisierung mindestens so sehr stellen, wie sie den Fortschritt propagieren. Was wird aus Demokratien, wenn Bürgerinnen und Bürger gläsern sind? Wenn, wie in der Türkei, ein falsches Like in den sozialen Medien ausreicht, um bei der Einreise in ein Land als Feind betrachtet zu werden?

Je enger die Freiheitsräume werden, je öffentlicher das Private, desto notwendiger ist eine Zivilgesellschaft, die Ungehorsam als Bürgerpflicht verinnerlicht hat.

© SZ vom 14.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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