Am Freitagvormittag ist der Weg endlich frei. Stundenlang hatten sie am Kanzleramt gearbeitet, unermüdlich räumten sie Hindernis für Hindernis aus dem Weg. Gegen zehn dann hatten die Arbeiter die letzte Plastikabsperrung aufgeladen. Die Straße zum Kanzleramt, seit Wochen eine Baustelle, war endlich fertig.
Drinnen ist die größte Baustelle der Koalition zu diesem Zeitpunkt noch immer ein ganzes Stück von der Fertigstellung entfernt. Als die Straßenarbeiter einpacken, sitzen die Spitzen der Koalition schon seit 17 Stunden beisammen. CO₂-Preis, Ökostrom, milliardenschwere Förderprogramme - Union und SPD haben sich derart verhakt, dass sich in diesem Augenblick keiner traut, ein gutes Ende vorherzusagen.
Klimakrise:Das steht im Klimapaket der großen Koalition
Stundenlang ringen Union und SPD um einen großen Plan, damit Deutschland die Klimaziele 2030 doch noch einhält. Nun ist ein Paket geschnürt. Die wichtigsten Vorschläge im Überblick.
Natürlich sagt der SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil am Morgen im Radio, alles sei auf gutem Wege. Und der CDU-Fraktionsvize Andreas Jung ergänzt im Fernsehen, man sei auf der Zielgeraden. Aber das soll eher verdecken, wie zäh da drin alles vorankommt. Als gegen elf Uhr am Vormittag Jochen Flasbarth, seit 2013 Staatssekretär im Umweltministerium, wortlos, aber zerknirscht auf die Straße tritt, beschleicht selbst Optimisten das Gefühl, die Sache könnte komplett schiefgehen.
Einigung oder schwerste Koalitionskrise, das blieb laut Teilnehmern über Stunden die unmissverständliche Alternative. Was für eine krisenhafte Zuspitzung. Und das bei einem Thema, dem zuletzt alle in der Koalition historische Dimensionen zugeschrieben hatten. Die Kanzlerin hatte von einer Menschheitsaufgabe gesprochen, der Vizekanzler einen großen Wurf gefordert und der CSU-Chef Markus Söder einen Marshallplan versprochen. Plötzlich soll alles dahin sein? Samt einer Koalition, die sich auflöst?
So weit ist es dann doch nicht gekommen. Das wird spätestens klar, als die übernächtigten Damen und Herren nach kurzer Dusche um 14.32 Uhr zur Bilanz antreten. Einträchtig und demonstrativ zufrieden haben sich die Koalitionsspitzen versammelt, um nach dem nächtlichen Marathon eine letzte Leistung zu erbringen. Sie müssen das, was viele tendenziell als kleinsten gemeinsamen Nenner erleben, als großen Wurf verkaufen. Angesichts der Tatsache, dass zur selben Zeit im Zentrum Berlins der organisierte Klimaprotest historische Ausmaße annimmt, brauchen auch Merkel und Co. Großes, um dem kommunikativ etwas entgegenzusetzen. Oder um es mit Markus Söder zu sagen: Diese Pressekonferenz muss sitzen.
Was mindestens äußerlich geschafft wird. Praktischerweise ist der Auftritt ins sogenannte Futurium verlegt worden. So heißt das frisch eröffnete Zukunftsmuseum von Berlin, eine Art Showroom für allerlei technologische Visionen. Dieser Ort drängt sich als symbolischer Überbau nachgerade auf. Prompt bezeichnet die Kanzlerin ihn als "Symbol der Aufgabe", die vor allen liege.
Merkel beginnt mit einer "persönlichen Vorbemerkung", die wie eine Entschuldigung klingt. Sie zeigt sich enttäuscht darüber, dass die Bundesregierung ihr Klimaziel für 2020 verfehle. Sie verstehe diejenigen, die sagten: "Warum soll ich euch diesmal glauben, dass ihr es für 2030 schafft?"
Eine gute Frage ist das. Sie zeigt, was Merkel vorhat. Sie will mit der zu erwartenden Kritik draußen im Land offensiv umgehen. Im weiteren Verlauf der Veranstaltung wird sie noch mit ihren schweren Augenlidern kämpfen. Während sie selbst spricht, wirkt sie aber ziemlich ausgeschlafen. Und dabei lobt sie nicht nur das gerade beschlossene Paket, sondern auch die Schwedin Greta Thunberg, die viel angestoßen habe. Gleichzeitig ermahnt sie die Leute, doch bitte zu verstehen, dass Politiker noch anderes miteinberechnen müssten als die Wissenschaftler oder die jungen Demonstranten. Politik sei das, was möglich ist. "Und diese Möglichkeiten haben wir ausgelotet."
Klimaschutz:"Ohne Autofahren funktioniert unser ganzes System nicht"
Christian Amberger sieht sich als Unterstützer von "Fridays for Future", obwohl er zahlreiche Tankstellen betreibt. Das will er auch weiterhin tun - auf seine Weise.
Aus den Reihen der CSU klingt da deutlich mehr bayerischer Optimismus heraus. Parteichef Markus Söder wertet das Klimapaket als "ein eindrucksvolles Zurückmelden der großen Koalition". Landesgruppenchef Alexander Dobrindt behauptet gar, sie alle seien "verliebt ins Gelingen".
Frisch verliebt wirkt Merkel nicht gerade. Gleichwohl spricht sie von einem "Paradigmenwechsel". Und sie hebt hervor, dass es einen festen Überprüfungsmechanismus geben werde. Dazu kommt sogar ein klein wenig Euphorie: "Es hat Freude gemacht, um den richtigen Weg zu ringen."
Diesem Rundherum-alles-okay-Eindruck, den die Koalitionsspitzen verbreiten möchten, ging ein Ringen voraus, welches das Prädikat "rundherum okay" lange Zeit nicht verdient hatte. In dem gut 19 Stunden dauernden Verhandlungsmarathon wechselten sich Gespräche in großer Runde immer wieder mit Treffen ab, in denen Union und SPD getrennt berieten. Mal mussten die einen neu überlegen, mal die anderen. Zum einen, weil sie bis zuletzt heftig darum stritten, wie eine CO₂-Bepreisung aussehen würde. Letztlich beschlossen sie eine, die nach Zertifikatehandel klingt, aber am Ende doch wie ein Preis aussieht.
Hinzu kommt das Problem, dass sie mehr als 50 einzelne Maßnahmen teilweise präzise gegenrechnen und gegeneinanderschneiden mussten. Dahinter steckte nicht nur die Merkel-übliche Detailarbeit. Über allem hing ein Grundkonflikt, den Kanzleramtsminister Helge Braun vor Beginn der Marathonnacht Unionsabgeordneten deutlich gemacht hatte. Teilnehmer berichten, Braun habe erklärt, dass die Union alles ablehnen werde, was nach Verbot aussehen könnte. Stattdessen sei sie für Anreize, wolle Impulse setzen und Veränderungen im Verhalten anregen, aber keinen Zwang ausüben. Die SPD dagegen verlange auch Verbote und Begrenzungen, etwa, indem der Einbau neuer Ölheizungen von einem bestimmten Datum an verboten werde. Nichts macht deutlicher, welche Grundüberzeugungen in dieser Nacht verhandelt wurden. Am Ende mit einem Paket, in dem es das eine wie das andere gibt, aber so abgeschwächt, dass es fürs Erste niemandem wehtut. Vielleicht waren daher nach langer Nacht alle in der Koalition so müde.
Und so erleichtert.