Jamal Khashoggi im SZ-Gespräch:"Viele Kritiker werden mundtot gemacht oder verschwinden"

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Das sagte der bekannte saudi-arabische Journalist Khashoggi im Gespräch mit der SZ im vergangenen Juli. Vor einigen Wochen ist Jamal Khashoggi in Istanbul getötet worden.

Interview von Paul-Anton Krüger

Jamal Khashoggi gilt seit vielen Jahren als wichtiger Ansprechpartner, um Vorgänge in Saudi-Arabien zu verstehen. Der 59-jährige Journalist, der in seiner Karriere mehrmals Osama bin Laden interviewt hat, erfreute sich lange bester Zugänge zur Königsfamilie, über die kein westlicher Journalist verfügt. Er arbeitete als Berater für Prinz Turki bin Faisal, dem früheren Geheimdienstchef und Botschafter Saudi-Arabiens in den USA.

Dennoch verlief seine Karriere nicht immer geradlinig. Er trug dazu bei, die Zeitung al-Watan zu einer Stimme der Liberalen in Saudi-Arabien zu machen, wurde aber nach seiner ersten Ernennung zum Chefredakteur im Jahr 2003 bereits nach 52 Tagen wieder abgesetzt. Das Informationsministerium reagierte damit auf einen Kommentar, in dem er den massiven Einfluss des religiösen Establishments in Saudi-Arabien kritisiert hatte. Seine zweite Amtszeit begann im April 2007 und währte etwas länger als drei Jahre. Offiziell trat er zurück, um mehr Zeit für seine eigenen Projekte zu haben, allerdings gab es wegen seiner fortgesetzten Kritik an der Macht ultrakonservativer Kleriker massiven Druck auf ihn. Ein in Bahrain neu gegründeter Fernsehsender unter seiner Leitung, der sich im Besitz des Milliardärs Al-Waleed bin Talal befand, musste schon am ersten Tag seines Sendebetriebs wieder schließen, weil dort ein schiitischer Oppositioneller aus Bahrain zu Wort kam.

Das folgende Gespräch führte die Süddeutsche Zeitung mit Jamal Khashoggi telefonisch am 19. Juli dieses Jahres im Zuge einer Recherche über den Stand der Reformen in Saudi-Arabien. Er war gut gelaunt, engagiert, interessiert an der Entwicklung seines Landes, das er im Herbst 2017 aus Angst vor Verhaftung verlassen hatte. Er wagte es von Washington D.C. aus, Kronprinz Mohammed bin Salman und dessen Kurs weiter öffentlich zu kritisieren. Das machte ihn als Ansprechpartner noch wertvoller, weil viele seiner Kollegen oder gar Regierungsmitarbeiter in Saudi-Arabien sich inzwischen nicht mehr trauen, mit westlichen Journalisten zu sprechen und sich schon gar nicht zitieren lassen wollen.

Nach seinem Verschwinden im Zuge eines Besuchs im Istanbuler Konsulat des Königreichs vergangenen Dienstag dokumentiert die Süddeutsche Zeitung das 45-minütige Gespräch hier in voller Länge.

SZ: Jeder fragt sich, ist Kronprinz Mohammed bin Salman ein echter Reformer? Sie haben sich immer wieder kritisch geäußert. Was ist Ihre Sicht auf die Dinge?

Jamal Khashoggi: Wie viele andere Saudis habe ich gemischte Gefühle bei dem, was er tut. Während wir seine sozialen Reformen unterstützen, haben wir Sorgen wegen der wirtschaftlichen Reformen, von politischen gar nicht zu reden. Denn politische Reformen existieren nicht, sie sind nicht auf seiner Agenda, dafür hat er keine Toleranz, und er denkt nicht, dass wir, das saudi-arabische Volk, sie verdienen oder weit genug sind dafür. Er will uns schlicht und einfach alleine führen. Worüber ich als Saudi-Araber besorgt bin und wo ich die Bruchlinie sehe, ist die Wirtschaft, da wird es darauf ankommen.

Inwiefern?

Seine Absichten sind gut, dass wir die Wirtschaft diversifizieren müssen, uns vom Öl unabhängig machen. Aber wie sieht das in der Realität aus? Wenn Sie eine Liste der Wirtschaftsreformen in Saudi-Arabien aufstellen, werden Sie feststellen, dass es eine Liste von Versprechen und Visionen ist, aber nichts Reales. Und ich glaube, dass er den Druck zu spüren beginnt. Er hat hohe Erwartungen geweckt, und jetzt muss er den Menschen etwas liefern. Gerade erst wurde angekündigt, dass der staatliche Ölkonzern Saudi-Aramco einen großen Anteil von Sabic kaufen wird, dem größten saudischen Unternehmen für Petrochemie und Metallproduktion. Das ist eine Luftbuchung. Aramco, ein saudisches Unternehmen, kauft Sabic, ein saudisches Unternehmen, und das Ergebnis sind aufgeblasene Gewinne. Und ein Teil davon wird dann wieder im Budget verbucht.

Was heißt das für die anderen Reformen?

Das ist genau mein Punkt: In Ägypten durften Frauen schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts Auto fahren, Kinos gibt es seit 1909. Aber das hat Ägypten 2011 nicht vor der Wut der Menschen bewahrt. Menschen wollen ein gutes Leben, und das setzt ein gutes und stabiles Einkommen voraus.

Der Kronprinz hat eine sehr ambitionierte Vision 2030 verkündet und den Teilbörsengang von Aramco, der als Zeitenwende für die Wirtschaft Saudi-Arabiens gesehen wurde. Nun ist diese Privatisierung auf unbestimmte Zeit verschoben. Ist es zu riskant? Oder will man jetzt doch nicht die Transparenz, die ein Börsengang erzwingen würde? Warum macht er das?

Das ist Realpolitik. Oder Real-Ökonomie vielmehr. Sehen Sie: Er kündigt einen Plan an, und wenn er beginnt, ihn umzusetzen, dann trifft er auf die realen Gegebenheiten. Und die zeigen, dass das Risiko, Aramco aus den Händen des Staates zu geben und dem offen Markt zu überlassen, Investoren und womöglich anderen Regierungen, große Gefahren birgt für das System in Saudi-Arabien. Aber was mir noch wichtiger ist: Wo investieren wir das Geld, das wir durch einen solchen Verkauf ansammeln? Haben wir einen Markt in Saudi-Arabien, der für Investoren attraktiv ist, seien es einheimische oder ausländische?

Gilt das nur für seine Wirtschaftspolitik? Oder auch andere Bereiche?

Das ist genau das Gleiche, was ihm passiert ist, als er den libanesischen Premierminister Saad al-Hariri festgesetzt hat (Saad al-Hariri hatte im November 2017 unter bislang nicht geklärten Umständen von Saudi-Arabien aus seinen Rücktritt bekannt gegeben. Westliche Diplomaten gehen davon aus, dass er dort gegen seinen Willen festgehalten worden war; Anm. d. Red.). Der Zusammenprall mit der Realität kam, als Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ihn anrief und fragte, was er da eigentlich mache. Es klafft eine Lücke zwischen Visionen, zwischen virtueller Realität und der wirklichen Realität. Realpolitik trifft Saudi-Arabien in Jemen, sie trifft uns in der Auseinandersetzung mit Iran. In 2016 war die Ankunft von Donald Trump als US-Präsident für den Kronprinzen wie die Ankunft des Messias. Er sollte der Mann sein, der liefert, der alle Probleme für uns löst. Und natürlich hat sich gezeigt, dass er das nicht kann.

Warum passiert so etwas immer wieder? Ist der Kronprinz mit seinen 32 Jahren zu unerfahren, zu voreilig, zu verwegen?

Es ist all dies. Er nimmt zu viele seiner Verantwortlichkeiten in die eigenen Hände. Er lässt nicht zu, dass andere beitragen, helfen oder gar ihn kontrollieren.

Warum?

Er ist überzeugt von sich. Mohammed bin Salman glaubt, dass er alleine das Land führen kann, und dass das Volk nicht bereit ist für Demokratie oder andere Arten der politischen Teilhabe.

Er hat immer noch Unterstützung, gerade in der jungen Generation, die ihn als einen der ihren sieht, als einen, der Dinge aufbricht, die längst überfällig sind. Viele wollen nicht mehr von Männern jenseits der 75 regiert werden, die keinerlei Verständnis haben für die Lebenswelt der Mehrheit. Sie sind froh, dass sie nicht mehr nach Bahrain oder in die Emirate fahren müssen, um ins Kino gehen zu können.

Sie haben völlig recht, die Menschen genießen die soziale Öffnung, sie ist überfällig. Aber sie brauchen ein dauerhaftes, gutes Einkommen, um davon etwas zu haben, um ins Kino gehen zu können, ein Auto zu kaufen, eine Freundin zu haben. Wenn die Feierlaune vorbei ist, werden sie nach einem Gehalt fragen, nach Jobs. Was mich zurück zur Frage nach Demokratie führt. Was ich von vielen Kollegen in Saudi-Arabien höre, ist die Wiederholung des Mantras: "Wir sind nicht reif für Demokratie." Wenn wir Demokratie erlauben, wird sie an Stammesstrukturen und Religion orientiert sein. Und Mohammed bin Salman denkt genau so. Er glaubt nicht, dass die Menschen in Saudi-Arabien in der Lage sind, sich in die Transformation ihrer Gesellschaft einzubringen, und deswegen muss er sie alleine durchsetzen, das Land alleine führen.

Einmal anders gewendet: Kann nicht gerade in einer absoluten Monarchie, in einem Land wie Saudi-Arabien von oben verordneter Wandel funktionieren? Die eine Frage ist sicher, ob die Projekte, die sich damit verbinden, wohlüberlegt sind. Die andere ist, ob er die Gesellschaft mitnehmen kann. Letztlich versucht er ja den contrat social der saudischen Gesellschaft zu erneuern. Er sagt ja der jungen Generation, ihr werdet anders als eure Eltern noch arbeiten müssen. Ihr bekommt nicht mehr die Rundumversorgung, aber zum Ausgleich gibt es ein paar kleine Freiheiten.

Ja, natürlich ist das so. Deswegen wünschte ich mir, dass er sich stärker um die Reform der Arbeitsmarkstrukturen in Saudi-Arabien kümmert, das Land von der Abhängigkeit von ausländischen Arbeitern zu befreien und Saudis dazu zu bekommen, dass sie arbeiten. Ich habe 2013 ein Buch geschrieben, das auch in Saudi-Arabien erschienen ist. Es heißt: "Die Besetzung des saudischen Marktes". Ich könnte behaupten, dass die Regierung genau das tut, wozu ich in dem Buch aufgerufen habe.

Mehr als 700 000 ausländische Arbeiter haben Saudi-Arabien in den vergangenen 15 Monaten verlassen.

Ja, aber das reicht bei weitem nicht. Wir müssen so viele rauswerfen, dass die saudische Bevölkerung gezwungen ist, zu arbeiten und die saudische Wirtschaft gezwungen ist, Saudis zu beschäftigen. Das ist so in Deutschland oder in Skandinavien, überall. Die Menschen dort arbeiten. Aber ich sehe nicht, dass Mohammed bin Salman Zeit darauf verwendet. Er sieht die Lösung immer noch in diesen futuristischen, glorreichen Städten wie Neom, die ausländische Investitionen und Experten anziehen sollen. Er muss in den Stadtzentren von Riad und Dschidda anfangen, er muss mit den nicht privilegierten, ungebildeten Saudis anfangen, nicht mit der gebildeten Elite.

Da gibt es Parallelen mit Ägypten. Hier baut die Regierung auch lieber für Dutzende Milliarden eine neue Hauptstadt in der Wüste als die marode Infrastruktur von Kairo zu sanieren.

Ja, aber warum tun sie das? Kein vernünftiger Ökonom schlägt so etwas vor.

Es gibt halt Vorbilder, die erfolgreich sind, die sowohl in Ägypten als auch in Saudi-Arabien erheblichen Einfluss ausüben - die Vereinigten Arabischen Emirate vor allem, die sich ja auch damit brüsten.

Aber das ist ein großer Fehler, die Emirate sind ein Solitär in der Region, der sich nicht duplizieren lässt. Wenn es im Nahen Osten Bedarf für ein zweites Dubai gäbe, hätte Bahrain es werden können. Aber das lässt sich nicht kopieren. Um Immobilien zu bauen, braucht man Leute, die sich Immobilien kaufen können. Saudi-Arabien ist nicht vergleichbar mit den Stadtstaaten am Golf. Es ist ein großes Land mit 20 Millionen Bürgern, wir sind nicht Dubai.

Wenn wir noch mal auf die sozialen Reformen blicken: Mohammed bin Salman hat in Saudi-Arabien einiges durchgedrückt, was Konservativen nicht gefällt. Nicht nur dass Frauen Auto fahren dürfen, dass Kinos eröffnet haben und es bei Shows und Konzerten sogenannte Familienbereiche gibt, wo Frauen und Männer nicht getrennt sind, aber auch nicht immer kontrolliert wird, ob sie wirklich verwandt sind. Das heißt aber auch, dass er den Einfluss des religiösen Establishments beschneiden muss. Kann er das durchhalten und unter Kontrolle halten? Es sind ja auch Kleriker mit Millionen Followern auf Twitter mundtot gemacht worden, manche wurden sogar eingesperrt.

Es gibt eine gewisse Bedrohung, aber wenn, dann wird sich das in Gewalt manifestieren, also Terroranschläge entweder von al-Qaida oder der Terrormiliz Islamischer Staat. Aber sie werden nicht erleben, dass die Menschen in Massen auf die Straße gehen und ein Ende der sozialen Reformen verlangen. Der Kronprinz hat sehr viel Macht. Ich habe immer geglaubt, dass die Regierung wesentlich mächtiger ist als das religiöse Establishment. Und das religiöse Establishment in Saudi-Arabien ist nicht unabhängig, es untersteht der Regierung. An dieser Front sehe ich keine Herausforderung für ihn. Die sehe ich wenn dann durch Arbeitslosigkeit, von Saudis, die unzufrieden sind mit ihrer wirtschaftlichen Lage. Saudis werden nicht wegen der Religion auf die Straße gehen.

Aber es gibt schon sehr konservative Teile in der saudischen Gesellschaft, die einflussreich sind und nicht glücklich mit den Entwicklungen. Ein Regierungsmitglied hat mir vor einiger Zeit einmal gesagt, es sei wichtig, die gesamte Gesellschaft mitzunehmen und sie nicht zu überfordern mit dem Tempo von Reformen. Mohammed bin Salman scheint eher auf die heute 30-Jährigen zu zielen, die im Westen ausgebildet worden sind und nun das Land nach vorne bringen sollen.

Ich bin sicher, dass viele konservative Saudis unglücklich sind, aber sie sind nicht in einer Position, sich Mohammed bin Salman entgegenzustellen.

Der Kronprinz hat davon gesprochen, dass über Jahrzehnte eine falsche Interpretation des Islam vorgeherrscht habe und Saudi-Arabien zu einer gemäßigten Form des Islam zurückkehren werde. Aber das bedeutet im Umkehrschluss, dass er einige seiner Vorgänger kritisiert - was beispiellos ist in der jüngeren Geschichte des Landes.

Natürlich, weil der Islam in Saudi-Arabien sehr streng war und immer noch ist, aber die wichtigste Kraft dabei ist nicht sein Argument, sondern seine Macht. Er hat die Autorität. Er hat die Macht, Leute einzustellen und zu feuern und einzusperren. Er wird an einem gewissen Punkt einen Ausgleich bewerkstelligen müssen, und ich glaube, er denkt noch darüber nach. Aber die schnelle Lösung der wirtschaftlichen Probleme hat Priorität. Die Frage der Religion wird Saudi-Arabien immer begleiten, aber sie wird nur im Zuge einer Wirtschaftskrise entscheidendes Gewicht gewinnen. Wenn er ein wirtschaftliches Wunder vollbringt, tritt alles andere in den Hintergrund. Die Menschen müssen spüren, dass sie mehr Einkommen haben, gute Wohnungen und so weiter. Dann wird Mohammed bin Salman Saudi-Arabien für die nächsten 50 Jahre führen.

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