Abeer Abu Sulayman schiebt ihren Kollegen zur Seite. Jetzt ist sie da, sie wischt sich den Schweiß vom Gesicht und kühlt das kleine Büro in der Altstadt von Dschidda auf 16 Grad herunter. Draußen glüht die Nachmittagssonne, im Schatten sind es 43 Grad. Der Verkehr auf dem Weg in die Altstadt sei fürchterlich gewesen, sagt sie. Die 52-Jährige ist die erste Touristenführerin der Stadt, wenn sie durch die verwinkelten Gassen läuft, grüßt sie jeder, ein lokaler Fernsehsender nannte sie mal "Dschiddas Herz".
Da sind die alten Herren in ihren blütenweißen Gewändern, die im Schatten der hohen Palmen sitzen, in der einen Hand ein Gehstock, in der anderen eine Zigarette, sie verwickeln sie in ein Gespräch, fragen sie nach ihrem Wohlbefinden und stehen auf, damit sie sich setzen kann. Oder der Gewürzhändler, der sie nicht gehen lassen will, ohne dass er ihr Datteln und getrocknete Aprikosen in die Hand drückt. Und schließlich die fußballspielenden Jungs, die ihr zeigen wollen, wie treffsicher sie sind. Abeer Abu Sulayman begrüßt jeden mit Namen, fragt nach den Familien und schlägt Einladungen zum Tee liebevoll, aber bestimmt aus.
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Mohammed bin Salman erlaubt seinen Untertanen manches, was bisher undenkbar war. Der Konflikt mit Kanada aber zeigt: Politische Freiheiten will der Kronprinz nicht gewähren.
Abeer Abu Sulayman verliert ungern Zeit. 2018 sollen erstmals allein reisende Touristen nach Saudi-Arabien dürfen, das Königreich rechnet mit circa 200 000 Besuchern. Auch wenn die Visavergabe noch nicht gestartet ist, will Abu Sulayman vorbereitet sein. Wenn es nach ihr ginge, wären die Gassen Dschiddas jetzt schon voller Touristen. Sie möchte, dass Ausländer ihre Heimat erkunden, mit Reiseführern, die zwar noch nicht auf dem Markt sind, aber die sicher noch kommen werden.
Die Rentnerin arbeitet ehrenamtlich. In ihrem neuen Büro beschäftigt sie junge Männer, Nachkommen somalischer Einwanderer. Deren Eltern sind vor Jahrzehnten als Pilger ins Land gekommen. Seit jeher gilt die Dreimillionenstadt Dschidda als Ort des Austauschs und des Handels, durch die Pilgerfahrt strömen jährlich etwa zwei Millionen Menschen hierher. Mekka ist nur vierzig Minuten Fahrt entfernt.
An ihren Umhang in Jeansoptik ist ihr Namensschild gepinnt: Seit wenigen Monaten darf sie als Touristenführerin arbeiten, früher tat sie das ohne Lizenz. Warum auch? Es gab ja kaum Touristen in Saudi-Arabien. "Viel zu lange waren wir unter uns. Daran sind wir selbst schuld. Und auch an dem Bild, das die Menschen von uns haben."
Saudi-Arabien ist für seine wahhabitische Auslegung des Islams bekannt, im Land gelten ein absolutes Alkoholverbot, rigorose Geschlechtertrennung und Kleidervorschriften für Frauen. Nun sei diese dunkle Phase überstanden, sagt sie. Das Land öffne sich. Was sie nicht sagt: Es öffnet sich, weil es muss. Das vergangene Jahr war für die saudische Wirtschaft kein leichtes. Der Ölpreis fiel weiter, weshalb die Benzinpreise erhöht und eine Mehrwertsteuer eingeführt wurden.
In Zukunft müssen also alternative Einnahmequellen her, wie der Tourismus. Die "Vision 2030" soll das Land auf eine Zeit nach dem Öl vorbereiten, der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman ist die treibende Kraft dahinter. Neues soll entstehen, wie die 500 Milliarden Dollar teure Megastadt Neom nahe der Grenze zu Jordanien und Ägypten, ein Ort der künstlichen Intelligenz, der mit erneuerbaren Energien versorgt werden soll. Und Altes soll ins Bewusstsein gerückt werden: Diriyah, der historische Geburtsort des saudischen Staates nordwestlich von Riad, wird derzeit aufwendig restauriert.
Der Umgang mit Touristen wird für die saudische Gesellschaft eine Gratwanderung werden - zwischen religiösen Vorschriften und Gewinnstreben. Bislang durften nur muslimische Pilger oder Geschäftsleute auf Einladung saudischer Firmen und Investoren ins Land. Ausgewählte Reisegruppen, wie der deutsche Reiseveranstalter Ikarus Tours, führen seit Ende der Achtzigerjahre deutsche Touristen durchs Königreich.
Vor allem die Nabatäerstadt Mada'in Saleh im Nordwesten begeisterte die Reisenden, erzählt Godehard Ulrich, der Reisen in die Region betreut. Die in Fels gemeißelten Monumentalgräber sind seit 2008 Unesco-Weltkulturerbe. Im Zuge des Arabischen Frühlings gab es einen Visastopp, mittlerweile hat Ikarus Tours wieder eine Rundreise durch Saudi-Arabien im Programm: Alle vier Daten waren für 2018 ausgebucht.
Dann kam der Stichtag, der 1. April, an dem der Anbieter die Visa für die Gäste hätte bekommen sollen. Und es passierte: nichts. Die Reisen sind mittlerweile alle wieder abgesagt. Die Behörden hüllen sich in Schweigen.
Offenbar überlegt das ultrakonservative Königreich derzeit noch, wen es ins Land lassen möchte - und vor allem: welche Regeln für diese Menschen gelten sollen.
Blickt man auf die Megastadt Neom, die am Roten Meer entstehen soll, bekommt man eine Ahnung davon. Dort soll ein Luxus-Touristenparadies auf 50 Inseln entstehen, mit eigenen Steuersätzen und eigenen Gesetzen. Grenzenlose Freiheit wird es jedoch nicht geben: Wer Alkohol möchte, der solle weiter nach Jordanien oder Ägypten fahren, sagte Mohammed bin Salman.
"Wer sich für Saudi-Arabien interessiert, wird unsere Kultur und Werte verstehen", glaubt Abeer Abu Sulayman, die Touristenführerin aus Dschidda. In einem Souvenirladen entdeckt sie eine Gruppe von Spaniern, sie sind beruflich hier. "Lust auf eine Gratistour?", fragt sie auf Englisch. Die Männer schließen sich an, drei Stunden spazieren sie mit ihr durch die Viertel, trotz Temperaturen von bis zu 43 Grad. Sie zeigt auf die "Roshan", die traditionellen Holzfenster mit türkisfarbener Balkonverkleidung. "Das waren übrigens die Vorläufer von Twitter", sagt sie und lacht. Die Häuser standen so eng, dass man sich Neuigkeiten durch die Balkonritzen flüsterte, bis die ganze Straße irgendwann Bescheid wusste. Der Clou: Von innen konnte man in Ruhe das Treiben auf der Straße beobachten, doch von außen sah man nicht hinein. Durch die Öffnungen wehte zudem eine frische Brise vom nahegelegenen Roten Meer herein.
Die Spanier lachen. Abu Sulayman weiß, was sie sagen muss, um sie bei Laune zu halten. "Ach, und die Balkone waren übrigens nicht dazu da, um Frauen zu verstecken", legt sie nach. Sie ahnt, was Menschen aus dem Westen über Saudi-Arabien denken könnten.
Seit Jahren bietet Abeer Abu Sulayman kostenlose Führungen an. Wenn sie heute saudische Studentengruppen durchs Viertel führt, dann freut sie sich, wenn das Smartphone mal in der Tasche bleibt und keiner dabei ist, der irgendwelche Pokémons fängt. "Wir haben etwas, was die Welt interessieren könnte - aber dafür müssen wir uns erst mal selbst dafür interessieren", sagt Abu Sulayman. Jahrelang ignorierten die meisten Saudis die Altstadt. Von der Stadtmauer, im 16. Jahrhundert errichtet, um die Stadt vor portugiesischen Seefahrern zu schützen, sind nur Bruchstücke übrig. Ein Großteil der Familien zog zwischen 1960 und 1980 in Neubauvillen, 1970 standen noch 1300 Altstadthäuser, heute sind es etwa 350. Trotz eines Abrissverbots brannten Häuser ab oder stürzten wegen mangelnder Instandhaltung ein.
Dabei sind die oft drei- bis sechsstöckigen Häuser aus Korallenstein architektonische Schmuckstücke, vor allem die aufwendig verzierten Erkerfenster zeugen vom kulturellen Erbe der einst blühenden Handelsstadt. Seit 2014 gehört der historische Kern von Dschidda, al-Balad, zum Weltkulturerbe. Erst die Aufnahme in die Unesco-Liste ließ den langen Streit über den Erhalt oder den Abriss der Häuser verstummen. Die Aufnahme war somit auch ein Signal: Pflegt euer kulturelles Erbe, dann habt ihr eine bessere Zukunft.
Abeer Abu Sulaymans Führung endet beim Nassif-Haus, in dem ehemaligen Kaufmannspalast lebte einst der Staatsgründer Saudi-Arabiens, Abdul Aziz. Gerade stehen schwarze Limousinen davor, wichtige Menschen seien das, sagt Abu Sulayman den spanischen Gästen. Besucher können deshalb gerade nicht in das Gebäude, in dem Abdul Aziz 1933 den ersten Vertrag mit der US-Firma Standard Oil unterschrieben hat - der Beginn eines neuen Zeitalters, voller Reichtum. Um diesen auch in Zukunft zu wahren, muss das Königreich in Zukunft wohl den einen oder anderen Kompromiss eingehen.