Reformen in Saudi-Arabien:Kino, Shows und Haftbefehle

dpa-Story: Wandel in Saudi-Arabien

Ein Restaurant mit Blick über Riad. Seit Anfang des Jahres wird für Dienstleistungen eine fünfprozentige Mehrwertsteuer erhoben.

(Foto: Oliver Weiken/dpa)
  • Frauen dürfen in Saudi-Arabien mittlerweile Auto fahren und Stadien besuchen - der Kronprinz galt deswegen als Hoffnungsträger.
  • Doch seit Tagen eskaliert ein heftiger Streit über Menschenrechte mit Kanada.
  • Der Konflikt zeigt: Mohammed bin Salman will das Land wirtschaftlich und gesellschaftlich reformieren, bei politischen Freiheiten aber blockt er ab.

Von Paul-Anton Krüger, Kairo

Er wurde gelobt, gewürdigt, gefeiert. Bis vor wenigen Wochen war Mohammed bin Salman in vielen Schlagzeilen ein "Hoffnungsträger", ein "Modernisierer", ein junger dynamischer Mann aus einem strenggläubigen Land, der einen "moderaten Islam" versprach. Dieses Bild, das nie ganz stimmte, hat nun Risse bekommen. Seit Tagen eskaliert ein heftiger Streit zwischen Saudi-Arabien und Kanada. Saudi-Arabien verwies Ottawas Botschafter des Landes, weitere Strafaktionen folgten. Doch Kanada bleibt hart und pocht auf die Einhaltung von Menschenrechten.

Der Anlass: Ende Juli waren Nassima al-Sadah und Samar Badawi, die Schwester des seit 2012 inhaftierten saudi-arabischen Bloggers Raif Badawi, verhaftet worden. Ihnen drohen wegen "verdächtiger Kontakte mit ausländischen Stellen" bis zu 20 Jahre Haft. Kanadas Außenministerin Chrystia Freeland zeigte sich per Twitter "alarmiert" von der Inhaftierung und forderte, die Aktivisten freizulassen. Riad betrachtet das als Einmischung in innere Angelegenheiten. Haft für Kritiker, eine scharfe Linie gegen deren Unterstützer im Westen - wie passt das zu einem Kronprinzen, der sich gern als treibende Kraft ambitionierter Reformen darstellt? Wie tief geht der Wandel in Saudi-Arabien wirklich?

Sieben Wochen ist es her, dass Saudi-Arabien Frauen gestattet hat, Autos zu lenken. Bewohner der Hauptstadt Riad sagen zwar, sie hätten seither kaum Frauen hinterm Steuer gesehen. Aber es gibt sie, sogar als Fahrerinnen beim Mitfahrdienst Careem. Das Fahrverbot war das Symbol für Rückständigkeit, für die Benachteiligung von Frauen, für die radikale Auslegung des Islam im Land. Seine Aufhebung präsentiert Riad als Beleg des Fortschritts unter König Salman und seinem ehrgeizigen Sohn, Kronprinz Mohammed.

Den historischen Tag, als das Fahrverbot fiel, den 24. Juni, erlebten einige Aktivistinnen jedoch bezeichnenderweise in Haft; sie hatten für ein Ende des Verbots gekämpft und fordern Frauenrechte ein, unter ihnen Loujain al-Hathloul. Seit Mitte Mai hat Saudi-Arabien laut dem UN-Menschenrechtsbeauftragten mindestens 15 Aktivistinnen und Menschenrechtler zumindest vorübergehend verhaftet. Die jüngst eingesperrten Nassima al-Sadah und Samar Badawi sind also nur die letzten in einer Reihe ähnlicher Fälle.

The Crown Prince Of Saudi Arabia Visits The UK

Kronprinz Mohammed bin Salman hat den Alltag vieler Saudi-Araber verändert.

(Foto: Dan Kitwood/Getty Images)

Will Mohammed durch das drakonische Vorgehen Hardliner im eigenen Land beschwichtigen? Oder will er die neuen Rechte nur als gütige Gabe des Herrschers verstanden wissen, keinesfalls aber als Nachgeben gegenüber gesellschaftlichem oder internationalem Druck? Dann könnten ja bald Forderungen nach politischer Teilhabe aufkommen. Die absolute Monarchie gilt als unantastbar, ebenso die Machtfülle des Kronprinzen. Widerspruch wird nicht geduldet, Kritiker werden weggesperrt oder mundtot gemacht: Kleriker, liberale Aktivisten, Journalisten. Es herrsche ein Klima der Angst, sagen Menschenrechtler.

Dabei hat der erst 32 Jahre alte Thronfolger seine Herrschaft schon gefestigt: Er kontrolliert das Militär, die Nationalgarde, die Geheimdienste, er bestimmt die Wirtschaftspolitik. Und sein Konzept für eine Modernisierung des Landes findet vor allem bei jungen Leuten einige Unterstützung. Kern der mit viel Marketing-Sprech garnierten "Vision 2030" für Saudi-Arabien ist: die Wirtschaft unabhängig machen vom Erdöl, das Saudi-Arabien vom nomadisch geprägten Wüstenreich zu einem Staat werden ließ, der von Bodenschätzen und Vermögen lebt. Heute stellen die zehn Millionen Ausländer im Land 90 Prozent der Beschäftigten in der Privatwirtschaft. Von den saudischen Bürgern, die arbeiten, sind zwei Drittel beim Staat angestellt. Niedrigere Ölpreise und das starke Bevölkerungswachstum bringen das Modell jedoch an seine Grenzen. Fast 70 Prozent der Saudis sind jünger als 30 Jahre.

Sie sollen nach den Vorstellungen ihres Herrschers künftig vor allem in der freien Wirtschaft arbeiten. Frauen sollen und müssen arbeiten, wenn der Umbau der Wirtschaft Erfolg haben soll. Mohammed bin Salman beendet damit das Versorgungssystem von der Wiege bis zur Bahre, das der Monarchie als Gesellschaftsvertrag mit seinen Untertanen galt und als Rechtfertigung dafür, ihnen politische Mitsprache zu verwehren.

Women Begin Driving In Saudi Arabia

Ende Juni wurde saudi-arabischen Frauen erlaubt, Autos zu fahren.

(Foto: Sean Gallup/Getty Images)

Flankierend hat der Kronprinz, oft nur MbS genannt, eine sozial- und gesellschaftspolitische Liberalisierung eingeleitet und eine "Rückkehr zum gemäßigten Islam" verkündet. Er entmachtet die wahhabitischen Kleriker, die das Land seit Jahrzehnten mit ihrer harschen Auslegung des Islam prägen; auch das rührt an Grundfesten des saudischen Staates.

Und er legt sich mit der Wirtschaftselite an, die eng verflochten mit der königlichen Familie durch korruptionsträchtige Infrastrukturprojekte sagenhafte Reichtümer angehäuft hat. Er ließ Dutzende führende Geschäftsleute und sogar Prinzen im Hotel Ritz Carlton von Riad inhaftieren, knöpfte ihnen 106 Milliarden Dollar ab. Viele normale Saudis verfolgten das mit Genugtuung. Kritiker und einige Geschäftsleute dagegen sehen darin den Versuch des Kronprinzen, seiner Entourage Zugang zu Aufträgen zu verschaffen und das Vermögen des eigenen Familienzweigs zu mehren.

MbS kann nur Erfolg haben, wenn die Arbeitslosigkeit sinkt

Mit "gemischten Gefühlen" verfolgt der bekannte saudi-arabische Journalist Jamal Khashoggi die Entwicklung. "Wie viele Saudis begrüße ich die sozialen und gesellschaftlichen Reformen", sagt er. "Die Wirtschaftsreformen sehe ich mit Sorge, von politischen Reformen ganz zu schweigen - die stehen nicht auf der Agenda." Khashoggi ging im Herbst 2017 ins Exil in den USA - er fürchtete, verhaftet zu werden.

Brüssel schweigt

Wenn es um Kanada geht, gerät die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini ins Schwärmen. Man sein "vollständig gleich gesinnt", lobte sie im Dezember bei einem Treffen mit der kanadi-schen Außenministerin Chrystia Freeland. Sowohl Kanada als auch die EU unterstützten "Multilateralismus und eine regelbasierte internationale Ordnung". Auf die saudischen Attacken gegen Kanada reagiert Europa trotzdem mit Schweigen. Menschenrechte stünden im Zentrum der EU-Politik, in bilaterale Konflikte mische man sich aber nicht ein, sagte eine Sprecherin Mogherinis. Dabei würden die Kanadier Rückdeckung begrüßen. Außenministerin Freeland telefonierte deswegen mit ihren Amtskollegen aus Deutschland und Schweden, Heiko Maas und Margot Wallström. Solidaritätsbekundungen aber vermeidet die EU. Pläne für eine schriftliche Erklärung zur Menschenrechtslage in Saudi-Arabien etwa stießen auf Bedenken Großbritanniens. Am Donnerstag übermittelten Botschafter aus EU-Ländern, auch aus Deutschland, dem Außenminister in Riad ihre Sorge. Dabei will es die EU erst einmal bewenden lassen. Daniel Brössler

Reformankündigungen hat es in Saudi-Arabien schon früher gegeben: Abdullah machte sie, als er 2005 den Thron bestieg, wenn auch vorsichtiger. Er beschnitt erstmals die Rechte der Religionspolizei. Die von ihm gegründete King Abdullah University of Science and Technology war die erste, auf der Frauen und Männer gemeinsam unterrichtet wurden. Auch für Wirtschaftsreformen, die von oben verordnet werden, gibt es ein Vorbild: König Salman hat als Gouverneur von Riad seit den 1990er-Jahren einen Entwicklungsplan für die Hauptstadt durchgesetzt. Sie wurde zur modernen Metropole ausgebaut. Salman, seit 2012 Kronprinz, festigte damit zugleich seine Macht.

Am weitesten wagt sich nun sein Sohn bei der Liberalisierung der Gesellschaft vor: Erstmals seit 1979 eröffnen wieder Kinos, es gibt Konzerte, Shows, eine Unterhaltungsindustrie samt Freizeitparks soll entstehen. Dabei ist MbS Getriebener: Saudis fahren längst nach Bahrain, nach Libanon, nach Ägypten oder Europa, wo sie solche Angebote finden - und mehr. Mindestens das Geld für Vergnügen, die mit dem Islam vereinbar sind, sollen die Untertanen zu Hause ausgeben. Das ist geschätzt immerhin ein mittlerer zweistelliger Milliardenbetrag.

In Kinos und bei Konzerten gibt es Familienbereiche, in denen Männer und Frauen nebeneinander sitzen dürfen. Nicht immer wird kontrolliert, ob sie verwandt sind. Auch Stadien dürfen Frauen inzwischen besuchen. Der Kronprinz hat die Armee für sie geöffnet, Kleidungsvorschriften gelockert und angeordnet, einige Regeln der männlichen Vormundschaft zu überprüfen, die Frauen zu Unmündigen degradiert. Künftig sollen sie ohne Zustimmung eines Mannes eine Arbeit oder ein Studium aufnehmen oder einen Pass beantragen dürfen. Keine Rede ist allerdings davon, systematische Benachteiligungen etwa vor Gericht oder im Erbrecht zu beseitigen, die man aus dem Koran ableitet. Offen ist auch, ob Frauen ihre Rechte werden wahrnehmen können, wenn sie denn erweitert werden, oder ob der Preis für viele dann etwa die Ausgrenzung durch ihre Familie ist.

Für das Überleben der Monarchie aber ist der Umbau der Wirtschaft zentral, und der stockt. Der teilweise Börsengang des staatlichen Erdöl-Riesen Saudi-Aramco, der bis zu 100 Milliarden Dollar bringen sollte, ist verschoben. Nur wenn es gelingt, jedes Jahr Hunderttausende Arbeitsplätze für junge Saudis zu schaffen, kann MbS Erfolg haben. Offiziell liegt die Arbeitslosenquote bei 12,8 Prozent, bei Frauen sind es sogar 33 Prozent. Von den Saudis unter 25 Jahren sind laut Internationalem Währungsfonds 30 Prozent ohne Job, bei den Frauen dieses Alters sogar 62 Prozent, der schlechteste Wert in der arabischen Welt.

Reformen in Saudi-Arabien: Frauen dürfen in Saudi-Arabien inzwischen ins Fußballstadion gehen, wie hier in Riad.

Frauen dürfen in Saudi-Arabien inzwischen ins Fußballstadion gehen, wie hier in Riad.

(Foto: Ali al-Arifi/AFP)

Das Wachstum, 1,2 Prozent im ersten Quartal, geht fast ausschließlich auf den anziehenden Ölpreis zurück. Die Zukunft jenseits des Öls verspricht sich der Kronprinz von zentral geplanten Megaprojekten: 500 Milliarden Dollar sollen in die Technologiestadt Neom am Roten Meer fließen, Resorts für Badetouristen auf einem vorgelagerten Archipel entstehen. Sie existieren bislang nur in Hochglanzbroschüren, die Direktinvestitionen aus dem Ausland sind auf dem niedrigsten Stand seit 14 Jahren. "Statt alles auf glorreiche Traumstädte zu setzen, sollte der Kronprinz bei weniger privilegierten, schlechter ausgebildeten Saudis in den Innenstädten von Riad und Dschidda anfangen", sagt der Kolumnist Khashoggi. "Wenn eine saudische Familie ins Kino geht, ist das gut - aber ob der Wandel erfolgreich ist, wird sich daran bemessen, ob ein Saudi in einer Bäckerei arbeitet oder sie wenigstens betreibt." Junge Saudis hätten nichts von Kinos und Konzerten, wenn sie nicht ein "ordentliches Gehalt haben und sich ein gutes Leben leisten können".

Groß ist die Versuchung, die Reformen auszusetzen oder ganz ad acta zu legen, wenn die Ölpreise wieder steigen. Das war zuletzt der Fall. Auch dafür gibt es Parallelen in der jüngeren Geschichte des Landes.

Noch ist nicht entschieden, ob die von oben verordnete Revolution Saudi-Arabien in ein anderes Land verwandelt - oder ob sich Mohammed bin Salmans Erneuerung als ein mit viel Pomp verkündetes halbherziges Reförmchen entpuppt. Sicher aber scheint zu sein: Politische Freiheiten und andere Grundrechte werden auf absehbare Zeit nicht Teil dieses monarchischen Wandels sein.

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