Die Italiener erleben gerade, dass Status quo nicht unbedingt dasselbe ist wie Stillstand. Nach der Wiederwahl von Staatspräsident Sergio Mattarella, die automatisch auch Mario Draghis Verbleib als Ministerpräsident bedeutete, zerfleischen sich zwei große Lager im römischen Parlament mit so viel Wut und Entschlossenheit, dass in der italienischen Politik wohl nichts bleibt, wie es war. Und da in einem Jahr das Parlament neu bestellt werden muss, kommt dieser plötzlichen Dynamik eine gewisse Bedeutung zu.
Besonders grundsätzlich geht es im rechten Lager zur Sache, im sogenannten Centrodestra, das nach einigen Häutungen nur noch ein bisschen centro und stattdessen viel harte destra in sich trägt. Sein Anführer Matteo Salvini, Chef der rechtspopulistischen Lega, hat sich als konfuser und schließlich gescheiterter Königsmacher bei der Präsidentenwahl selbst entzaubert. "Nun will er das Debakel möglichst schnell vergessen machen", schreibt die Zeitung Corriere della Sera - und zwar mit einem kühnen, aber nicht mehr ganz neuen Plan.
Salvini möchte aus seiner Lega und aus Silvio Berlusconis liberaler Forza Italia einen "Partito Repubblicano" nach amerikanischem Vorbild formen. Die Republikaner seien ja auch ein Sammelbecken vieler konservativer Seelen. Ursprünglich stammt die Idee von Berlusconi: Er sah darin eine Chance, seine Forza Italia vor der Bedeutungslosigkeit zu retten. Und nun? Der geschwächte Salvini ist plötzlich nicht mehr so interessant.
Meinung Italien:Firewall gegen die Populisten
Dass Sergio Mattarella als Präsident wiedergewählt wurde, ist ein Glücksfall für Italien und Europa. Es offenbart aber auch die eklatante Schwäche der italienischen Parteien.
Alliieren sich Lega und Forza Italia, beides Regierungsparteien, würde das die postfaschistischen und oppositionellen Fratelli d'Italia von Giorgia Meloni aus dem Bündnis verbannen. Meloni wäre isoliert, ganz rechts außen: Katalysator der Unzufriedenen im Land. Es fragt sich allerdings, ob der Bruch nicht schon passiert ist. "Das Centrodestra existiert nicht mehr", sagte Meloni und erzählte eine Anekdote aus den entscheidenden Stunden der Präsidentenwahl. Früher Samstagmorgen, allgemeine Verwirrung. Salvini hatte in der Nacht vorgeschlagen, die Geheimdienstchefin Elisabetta Belloni zur Präsidentin zu machen. Das war auch Melonis Wissensstand. Dann ruft er sie an: "Bist du in deinem Büro? Ich komme gleich hoch", sagte er. Meloni hat ihr Büro im sechsten Stock des Palazzo Montecitorio, Sitz der Abgeordnetenkammer. Es gibt da Aufzüge, ein, zwei Minuten, dann ist man da. Doch Salvini sollte nie oben ankommen. Stattdessen stellte er sich vor eine Fernsehkamera und erklärte, man habe sich entschieden, Mattarella wiederzuwählen. Meloni twitterte darauf aus ihrem Büro: "Ich kann es nicht fassen."
Die beiden Lager befehden sich auch im Netz
Tief zerrüttet sind auch die Cinque Stelle, die großen Wahlsieger von 2018. Ihr neuer capo politico, Italiens früherer Premier Giuseppe Conte, und Außenminister Luigi Di Maio, ehedem Parteichef, streiten sich so heftig und in aller Öffentlichkeit, dass das parteinahe Blatt Il Fatto Quotidiano schreibt: "Es wird nur einer übrig bleiben." Aber wer? Die beiden verstehen sich schon lange nicht mehr, weder politisch noch menschlich. Conte wirft Di Maio nun vor, der habe seine Arbeit bei der Präsidentenwahl gezielt sabotiert, er müsse sich dafür verantworten - am besten online, in einer Umfrage der eingeschriebenen Parteimitglieder. Am Montag entlud sich der Zorn von Contes Anhang auch in einem Shitstorm in den sozialen Medien, er lief unter #DiMaioOut.
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Von Conte heißt es, er wolle den orthodoxen, rebellischen Flügel der arg geschrumpften Protestbewegung wiederbeleben und überlege sich deshalb, zwecks Profilierung Draghis Regierungsmehrheit zu verlassen. Di Maio hingegen ist der Anführer der "Governisti" in der Partei, die lieber mitregieren, als zu rebellieren. Die "interne Guerilla", wie die Zeitungen den Richtungskampf nennen, kann die derzeit stärkste Partei im italienischen Parlament sprengen.
Die erstaunliche Zersetzungsbewegung in der Parteienlandschaft ein Jahr vor dem Ende der Legislaturperiode rückt ein altes Thema wieder ins Zentrum: die Debatte über das Wahlgesetz. Italien gibt sich alle paar Jahre ein neues. Das aktuelle "Rosatellum", ein Mix aus Proporz und Majorz, hat dazu beigetragen, dass das Parlament seit 2018 ohne Mehrheiten dahinsegelt. Das sah man auch bei der Präsidentenwahl. Nun ist der Drang groß, die Zeit zurückzudrehen - weit zurück in die Erste Republik, von 1946 bis 1994, als ein reines Verhältniswahlrecht die kleinen und sehr kleinen Parteien über die Maßen bevorteilte. Koalitionen wurden nicht vor den Wahlen geschlossen, sondern danach. Im Klein-Klein, wie auf dem Basar.