Corona-Hilfsfonds:Die Milliardenblase

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Beispiel Studentenwohnungen: Weil die Regierung nicht, wie versprochen, mit EU-Geld Wohnheime baut, kampieren Studenten aus Protest auf der Straße - wie hier in Rom. (Foto: Matteo Nardone/IMAGO/Pacific Press Agency)

Italien könnte enorme Summen von der EU abrufen. Aber die Brüsseler Behörden verweigern oft die Auszahlung. Denn die Regierung in Rom schafft es einfach nicht, die Projekte umzusetzen.

Von Marc Beise und Jan Diesteldorf, Brüssel/Rom

Der Protest war still, aber er hat eine große Wucht entfaltet. Es begann in Mailand, auf der Piazza Leonardo da Vinci, wo eine Studentin ein Zelt aufschlug, weil sie kein Zimmer fand. In fast allen Universitätsstädten Italiens, in Rom und Florenz, in Bologna und Perugia, kampierten vor dem Sommer junge Menschen an zentralen Plätzen, geeint im Frust, begleitet von Zeitungen und Fernsehen. Entweder hatten sie keine Unterkunft gefunden oder konnten sich keine leisten, meistens ein bisschen von beidem. Es herrscht Platznot in Italiens Metropolen, Tausende Studenten müssen pendeln, und Abhilfe ist nicht in Sicht - obwohl die politischen Ideen seit mehr als zwei Jahren formuliert sind.

Damals bereits hatte sich die Regierung von Ministerpräsident Mario Draghi vorgenommen, das Studentenzimmer-Problem mit Geld aus Brüssel in den Griff zu bekommen. In ihren Corona-Wiederaufbauplan hatte sie zwei Ziele geschrieben, um Platz zu schaffen für die Akademiker der Zukunft: Insgesamt 960 Millionen Euro wollte sie dafür haben, finanziert mit günstigen EU-Krediten. Bis in dreieinhalb Jahren sollen nun 60 000 zusätzliche Zimmer zur Verfügung stehen. 7500 davon schon bis Ende 2022. Dieses Ziel aber hat die Regierung in Rom, die mittlerweile von Draghi-Nachfolgerin Giorgia Meloni geführt wird, aus Sicht der Europäischen Kommission verfehlt. Denn die Zimmer, argumentierte die Behörde, müssten längst fertig und nicht nur genehmigt sein.

Fast ein halbes Jahr lang blockierte Brüssel 19 Milliarden Euro

Und so blockierte Brüssel fast ein halbes Jahr lang eine Summe von 19 Milliarden Euro, die dritte Tranche der Gelder aus dem Corona-Wiederaufbaufonds, die Italien so dringend braucht. Vor wenigen Tagen erklärte sich die Kommission dann bereit, nun knapp 18,5 Milliarden Euro freigeben zu wollen, reduziert um das Geld für die 7500 fehlenden Wohnheimplätze. Bis zur letzten Augustwoche wird der Rat der Mitgliedstaaten über die Überweisung entscheiden, was als Formsache gilt. Es geht also voran, ein bisschen.

Kein anderer EU-Mitgliedstaat profitiert potenziell so sehr vom 724 Milliarden Euro schweren Corona-Wiederaufbaufonds wie Italien. 191,5 Milliarden Euro hat das Land beantragt, um Straßen und Brücken zu bauen, Schulen zu digitalisieren oder Solaranlagen zu errichten; das Geld muss bis Ende 2026 fest verplant sein - und es ist ein ständiges Tauziehen mit Brüssel, Tranche für Tranche.

Blick zurück: Als die Pandemie Europas Wirtschaft ins Wanken brachte, im Juli 2020, hatten sich die EU-Staaten auf ein historisch einmaliges Unterfangen verständigt: Erstmals würde die Kommission gemeinschaftliche EU-Schulden aufnehmen und das Geld in einem Fonds sammeln, um die Folgen der Pandemie zu mildern und Zukunftsinvestitionen anzuschieben. Kurz darauf zerstritt sich in Italien die Regierungsmehrheit, am Ende verständigten sich alle Parteien auf eine Technokraten-Regierung unter dem parteilosen Banker Mario Draghi. Der erfahrene Entscheider Draghi, der stets vom Ende her denkt, wusste diese Chance zu nutzen. Als EZB-Präsident hatte er zuvor, das macht ihn schon zu Lebzeiten zu einer historischen Figur, den Euro in einer kritischen Phase mit nur einem Satz gerettet ("Whatever it takes"), er ist ein überzeugter Anhänger der europäischen Integration. Jetzt als Regierungschef in Rom forcierte er die Reformpolitik Italiens.

Draghi wollte sein Land mit den Subventionen an die EU binden

Salopp gesprochen ging Draghis Erzählung so: Ich weiß nicht, wie lange ich dran bin, dann drohen die Rechten zu kommen, die sich von Europa abwenden. Je enger die EU Italien an ihre Geldtöpfe bindet, desto besser für den Zusammenhalt Europas.

Was soll man sagen, es hat bestens funktioniert. Als Draghi nach einem Jahr gestürzt wurde und bei den Neuwahlen drei Parteien an die Macht kamen, die rechts, rechter und am rechtesten sind, hat sich seitdem in Bezug auf Europa nichts geändert. Die Gegner der Draghi-Nachfolgerin Giorgia Meloni von den postfaschistischen Fratelli d'Italia reiben sich nur noch die Augen, wie lammfromm die frühere Wutbürgerin gegenüber der EU geworden ist. Kein Wunder: Sie ist auf das Geld angewiesen, das Draghi ihr organisiert hat.

"Next Generation EU" nannte die Kommission das Corona-Wiederaufbauprogramm, die nächste Generation der EU, zu der ja auch jene Studenten gehören, die in Italiens Großstädten in Zelten hausen. Der Plan ist zugleich ein Meisterstück des politischen Marketings der EU und ein Fallbeispiel für die Schwierigkeit, mit Staatsgeld Wachstum zu schaffen in Ländern, die entweder nicht genug Projekte für Investitionen finden oder deren Bürokratie damit überfordert ist, das Geld fristgerecht auszugeben. Im Fall von Italien trifft beides zu.

Auf das Land könnte theoretisch mehr als ein Drittel der Gesamtsumme entfallen, denn schon jetzt ist absehbar, dass die 27 EU-Regierungen nicht das ganze Geld abrufen werden. Die Mitgliedstaaten erhalten aus dem Fonds Zuschüsse und vergünstigte Kredite mit langer Rückzahlungsfrist, müssen im Gegenzug aber detailliert ausformulierte Ziele erreichen, sie müssen je einen guten Teil des Geldes für Klimaschutz- und Digitalisierungsmaßnahmen ausgeben und Reformen umsetzen. Sonst hält Brüssel die Überweisungen zurück.

Von 527 bei der EU beantragten Projekten sind erst 96 umgesetzt

527 Projekte umfasst die Liste, die Draghis Beamte vor mehr als zwei Jahren nach Brüssel schickten. Die EU-Kommission überprüft laufend anhand von Stichproben, ob die Ziele erreicht werden. Im Fall von Italien stuften die Beamten einige der 60 stichprobenartig überprüften Vorhaben als unzureichend ein und schauten daraufhin genauer nach. Derzeit gelten laut Kommission 96 Ziele als erreicht, ein knappes Fünftel. Die Regierung in Rom ist also ziemlich in Verzug, und weil das Geld aus der dritten Tranche so lange blockiert war, hat sie die Auszahlung der vierten noch nicht einmal beantragt.

Meloni versucht deshalb, so gut es geht, die Dinge zu beschleunigen. Ihre Minister haben die Pläne zuletzt gleich zweimal überarbeitet. Zunächst gab die Kommission Ende Juli bekannt, dass Italien einen Teilbereich neu formuliert habe, der die vierte Tranche an Auszahlungen betreffe. Anfang der Woche teilte die Brüsseler Behörde mit, einen komplett neu geschriebenen Plan von der italienischen Regierung erhalten zu haben. Rom schlage vor, 144 Investitionen und Reformen zu überarbeiten. Die Kommission prüft jetzt, ob der geänderte Plan noch alle Bewertungskriterien erfüllt.

Wie lange das dauert, ist noch offen. Die Uhr tickt, Italiens Wachstum, das zuletzt europaweit spitze war, beginnt zu lahmen. Und derzeit erscheint es fraglich, ob es Meloni gelingen kann, die strukturellen Probleme des Landes mit Geld aus Brüssel zu übertünchen.

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