Das Meer schwemmt ab und zu noch gesplitterte Holzstücke an, und vor einigen Tagen fand jemand unter dem Sand die Hülle eines Schlauchboots. Es gehörte zu einem Boot, das am Strand von Steccato di Cutro drei Fischern auffiel in der Dunkelheit eines frühen Sonntagmorgens vor einem Jahr. Der Wind blies mit vier bis fünf Beaufort Stärke in der Nacht vom 25. auf den 26. Februar 2023, die Wellen vor Kalabriens Küste stiegen zwei, zweieinhalb Meter hoch, viel für kleinere Boote. Das Boot in der Bucht von Steccato manövrierte seltsam, gegen 4.15 Uhr alarmierten die Fischer die Carabinieri.
In diesen Minuten zerbirst der hölzerne Rumpf dieses Boots an einer Sandbank unweit eines Ufers, mehr als 180 Menschen stürzen ins kalte Wasser, schreien, kämpfen um ihr Leben. Als es dämmert, hat das Ionische Meer schon einige leblose Körper an den Strand gespült und viele blau-weiße Holztrümmer. Die Tragödie von Cutro ist nun ein Jahr her, eines der schwersten Unglücke mit Flüchtlingsschiffen im Mittelmeer. Man muss von mindestens 105 Toten ausgehen, 34 davon Kinder.
Die Carabinieri und die Fischer waren die ersten Retter, später trafen Schiffe der Guardia di Finanza und der Küstenwache ein, Taucher, ein Hubschrauber. 81 Menschen wurden gerettet, 94 Tote an vielen weiteren Tagen geborgen, auch noch nach zwei Monaten, die Sporthalle der Kleinstadt Cutro füllte sich mit Särgen. Ein Dutzend Menschen waren nicht zu identifizieren, mindestens elf bleiben vermisst.
Nach wenigen Stunden versagte erst mal der Schiffsmotor
Schnell finden Medien in Italien, allen voran La Repubblica und Il Corriere della Sera, Anhaltspunkte, dass das Desaster womöglich vermeidbar gewesen wäre. Das beschäftigt auch die Staatsanwaltschaft von Crotone. Sie ermittelt einerseits gegen die Schleuser an Bord, einer wurde kürzlich verurteilt. Zum anderen, wie in jener Nacht Informations- und Entscheidungsketten abliefen zwischen der EU-Grenzschutzagentur Frontex, der Guardia di Finanza und der Küstenwache. Gab es Lücken, fatale Fehleinschätzungen, hätten sie rechtzeitig in Sicherheit gebracht werden können, die mindestens 181 Menschen?
Sie stammen aus Afghanistan, Pakistan, Syrien, Tunesien, Palästina und der Türkei und sahen nur noch die Flucht nach Europa als Ausweg. Am 22. Februar bestiegen die Frauen, Männer, Kinder bei Çeşme in der Türkei ein Boot, zahlten den Schleusern bis zu 8000 Euro, die unterwegs Handyfotos gemacht haben sollen, Werbung für weitere lukrative Fahrten. Erst mal versagte aber nach wenigen Stunden der Schiffsmotor, die Schleuser ließen alle umsteigen auf ein Boot mit dem klingenden Namen Summer Love. Ein etwa 20 Meter langer traditioneller Schoner, wie sie für Segelausflüge für Touristen dienen. Dieser taugte dazu nicht, ohne Masten und Sitzplätze, aber mit Öllachen und einem Motor, der immer wieder stockt.
Die Schleuser pferchten die mehr als 180 Menschen unter Deck. Die meiste Zeit ließ man sie nur zum Toilettengang raus. Sie sollen nicht auffallen auf der Route nach Kalabrien, auf der Schleuser von der Türkei und Ägypten schon Zehntausende nach Italien fuhren. Keiner sollte telefonieren, Handysignale könnten sie verraten. Das Boot fuhr ohne Positionslichter und Transponder, trotz immer ungünstigeren Wetters warteten die Schleuser vor der Küste, um spät zu landen. Die Summer Love sollte eines der "Geisterschiffe" sein, die unbemerkt Migranten absetzen.
Unbemerkt blieb sie aber nicht. Die Crew des Frontex-Aufklärungsflugzeugs Eagle 1 meldet um 22.26 Uhr am 25. Februar der Frontex-Zentrale in Warschau ein Boot ungefähr 40 Seemeilen (74 Kilometer) südöstlich der Halbinsel Capo Rizzuto. Nur eine Person an Deck, nirgendwo Rettungswesten; Infrarotbilder zeigten Leute im Rumpf an; es habe Satellitentelefonkontakt in die Türkei gegeben. Ein Video wird live übertragen, Eagle 1 übermittelt Kurs und Tempo des Boots und die womöglich schicksalhafte Information: Das Boot bewege sich mit gutem Auftrieb. Was sich deuten lässt, als gäbe es keine Gefahr.
Die Staatsanwälte durchsuchten Büros von Küstenwache und Finanzpolizei
Frontex leitete kurz nach 23 Uhr die Angaben weiter an italienische Stellen, so dem Internationalen Koordinationszentrum in Pratica di Mare, dem Nationalen Koordinationszentrum des Innenministeriums und dem Koordinationszentrum für Seerettung in Rom. Die Frontex-Beamten teilten nicht mit, dass Eagle 1 das Boot nicht weiter beobachtet, sondern den Einsatz beendet, auch wegen starken Winds. Die Summer Love bleibt aber bei den Behörden auf dem Schirm. Um 2.20 Uhr und 2.30 Uhr laufen zwei Boote der Guardia di Finanza aus, um sie zu kontrollieren, wenn sie die Hoheitsgewässer erreicht. Nach gut einer Stunde drehen sie aber ab und steuern Crotone an, ihre kleinen Schiffe bewältigen den Seegang kaum. Es werden auch noch Carabinieri an Land dahin entsandt, wo die Landung des Boots erwartet wurde.
Viele Details mehr liegen vor aus der Unglücksnacht. Die Staatsanwälte von Crotone ließen Büros von Küstenwache und Finanzpolizei durchsuchen und teilten mit, sie ermittelten gegen drei Offiziere und Unteroffiziere der Guardia di Finanza. Der Anfangsverdacht reiche von Missachtung von Dienstpflichten bis fahrlässige Tötung. Medien zufolge ermitteln sie auch gegen drei Angehörige der Küstenwache und drei weitere Personen, deren Namen in den Akten ausgelassen seien. Es gibt Vermutungen, es könnten Frontex-Beamte mit strafrechtlicher Immunität sein.
Wer informierte wen wie, wer hätte anders handeln sollen? Oder wurde nichts gravierend falsch gemacht, nur sah keiner über seine Kompetenz hinaus das ganze Bild? Hätte spätestens ein Rettungseinsatz für das mutmaßliche Flüchtlingsboot starten müssen, als die Besatzungen der Finanzpolizei vor dem Seegang kapitulierten? Das sind die Fragen. Die Küstenwache hat ja Schiffe für stürmisches Wetter, sie bringt den großen Teil der nach Italien gelangenden Schiffsflüchtlinge in Sicherheit, 2023 waren es 158 000. Die Küstenwache teilte mit, sie habe in der Nacht keinen Notruf erhalten, keine Meldung über ein Schiff in Not. Der erste Notruf sei gegen 4.30 Uhr am Sonntag eingegangen. Da war es schon passiert. Es erscheint bisher so, als schöben Küstenwache, Guardia di Finanza und Frontex sich gegenseitig die Verantwortlichkeit zu.
Die Staatsanwaltschaft von Crotone hat ein unabhängiges Gutachten anfertigen lassen. Der pensionierte Admiral Salvatore Carannante, er war auch Gutachter beim Costa-Concordia-Unglück, legte 65 Seiten vor. Er kommt darin unter anderem zu dem Schluss, dass die Frontex-Informationen an die italienischen Behörden "wenig zuverlässig und irreführend" gewesen seien. So fiel Carannante auf, dass Kurs und Geschwindigkeit der Summer Love, wie von Frontex übermittelt, nicht stimmen konnten. Sie musste sich schneller bewegt haben und auf anderem Kurs.
Ein Schleuser wurde bereits verurteilt
Nach den Frontex-Daten, so errechnete er, hätte das Boot gegen sieben Uhr Land erreicht, deutlich südwestlich von Steccato di Cutro bei Copanello. Zudem fanden die Staatsanwälte Hinweise, dass Zeitangaben vom Einsatz der Finanzpolizei-Boote womöglich nicht korrekt gewesen sind. Es kann noch Monate dauern, bis klar ist, ob zu diesem Komplex ein Prozess eröffnet wird. Auf Anfrage der SZ gab die Staatsanwaltschaft von Crotone dazu keine Auskunft.
Was die Schleuser an Bord angeht, ist man in Crotone viel weiter. Der türkische Kapitän starb beim Untergang. Drei Schleuser stehen noch vor Gericht. Ein Fünfter, der 29-jähriger Türke Gun Ufuk, wurde am 15. Februar verurteilt wegen Beihilfe zu illegaler Einwanderung und fahrlässigen Schiffbruchs mit Todesfolge. Er erhielt 20 Jahre Haft, dazu kommen drei Millionen Euro Geldstrafe und Entschädigungszahlungen, für Letztere springt wohl der italienische Fonds für Verkehrsopfer ein.
Ufuk wählte eine verkürzte Prozessform ohne Berufungsmöglichkeit - dafür wird die Strafe um ein Drittel reduziert. Er, der als Maschinist an Bord war, sei selbst Flüchtling, wie er angab. Er habe Polizeiauflagen in der Türkei und Ausreiseverbot, er gelte als Unterstützer des Militärputschversuchs von 2016. Sein Anwalt erklärte, Ufuk habe die Türkei verlassen müssen, er habe unentgeltlich für die Überfahrt an Bord gearbeitet. Ufuk gab an, er sei nach dem Schiffbruch weggelaufen, im Taxi nach Bari, von da im Zug nach Rom und dann weiter. In Salzburg wurde er verhaftet, er soll dort Aufnahme als politischer Flüchtling beantragt haben. Den sechsten Verdächtigen, einen Syrer, verhaftete die Polizei erst am 7. Dezember. Bei den Schleuserprozessen sind staatliche Stellen Nebenkläger, sie fordern Entschädigung, da Kalabriens Image als Urlaubsziel durch die Katastrophe gelitten habe.
Exklusiv Flucht nach Europa:Das verlorene Boot
Am 22. Februar macht sich ein Schiff in der Türkei auf den Weg nach Europa. An Bord hoffen etwa 180 Geflüchtete auf ein besseres Leben. Doch kurz vor Italiens Küste sinkt das Schiff, obwohl europäische Behörden es bereits Stunden zuvor gesichtet hatten. Warum hat niemand geholfen?
In Cutro gedenkt man der Katastrophe drei Tage mit mehreren Veranstaltungen. Um vier Uhr morgens am 26. Februar wollten sie mit Fackeln zum Strand gehen, 52 Überlebende und Opferangehörige sollen dabei sein. Später sollen sie öffentlich ihre Geschichten erzählen. Dazu könnte gehören, dass eine Reihe Überlebender mit unklaren Zukunftsaussichten noch in Flüchtlingsunterkünften lebt, unter anderem in Hamburg.
Italiens Rechtsregierung zeigte nach der Tragödie nur mühsam Anteilnahme. Unter Druck der Öffentlichkeit tagte das Kabinett am 9. März symbolisch in Cutro, Premierministerin Giorgia Meloni enthüllte eine Gedenktafel. Und ihre Regierung präsentierte das Gesetz gewordene "Cutro"-Dekret gegen illegale Einwanderung. Darin sind sehr hohe Strafen für Schleuser festgeschrieben. Aber auch Auflagen, die Seenotrettungsorganisationen daran hindern, mehr Leben zu retten.