Krieg in Nahost:Baerbock warnt vor Kollaps in Gaza

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Über Rafah im Süden des Gazastreifens steigt am Mittwoch nach einem israelischen Angriff Rauch auf. (Foto: Said Khatib/AFP)

In Kairo stocken die Verhandlungen über die Freilassung der Geiseln durch die Hamas. Unklar ist, ob Israels Bodenoffensive in Rafah wirklich kommt. Die deutsche Außenministerin ruft zu einer Feuerpause auf.

Von Sina-Maria Schweikle, Tel Aviv

Am Dienstag haben sich hochrangige Vertreter aus Israel, Katar, den USA und Ägypten in Kairo getroffen, um über die Freilassung der von der Hamas verschleppten israelischen Geiseln zu verhandeln. Dabei ist ihnen nach Medienangaben kein Durchbruch gelungen, sie verständigten sich jedoch auf eine Verlängerung der Gespräche um drei Tage. Die Verhandlungen seien demnach grundsätzlich "positiv" verlaufen und sollen nun auf niedrigerer Beamtenebene fortgesetzt werden. Andere Töne hingegen schlägt der israelische Premierminister an. Am Mittwochnachmittag teilte Benjamin Netanjahu mit, dass Israel keinen neunen Vorschlag der Hamas zu Freilassung der Geiseln erhalten habe. Er werde darauf bestehen, dass "Israel den wahnhaften Forderungen der Hamas nicht nachgeben wird". Erst eine Änderung der Positionen der Hamas werde es ermöglichen, die Verhandlungen voranzutreiben.

Auch aufgrund dieser Situation gehen Analysten davon aus, dass es sich bei der angedrohten Bodenoffensive der israelischen Armee (IDF) um ein taktisches Manöver handeln könnte, um den Druck auf die Hamas zu erhöhen, die verbliebenen 134 Geiseln freizulassen. Mehr als 30 von ihnen sollen nach israelischen Angaben bereits tot sein. Denn gegen eine tatsächliche Umsetzung der Bodenoffensive spricht die Tatsache, dass sich ein nicht unerheblicher Teil der israelischen Armee bereits aus dem Gazastreifen zurückgezogen haben soll. Dem widersprechen allerdings die Aussagen des israelischen Ministerpräsidenten, dass es ohne eine Bodenoffensive unmöglich sei, die Hamas zu zerschlagen und damit das Kriegsziel zu erreichen. Auch die Frage, wo die mehr als eine Million Zivilisten, die in Rafah Schutz suchen, untergebracht werden können, ist weiter unklar. Netanjahu hatte ebenfalls angekündigt, für Zivilisten einen sicheren Korridor zu schaffen.

Laut Menschenrechtsorganisationen gibt es in Gaza keinen sicheren Ort mehr

In Rafah im Süden des Gazastreifens harren derzeit mehr als eine Million Menschen auf engstem Raum unter schwierigen Bedingungen aus. Es fehlt an Wasser, Lebensmitteln und Medikamenten. Internationale Organisationen und Diplomaten warnen schon jetzt vor einer humanitären Katastrophe und vielen Opfern, sollte es zu der von Netanjahu angekündigten Bodenoffensive kommen. Nach Einschätzung vieler Menschenrechtsorganisationen gibt es im gesamten Gazastreifen keinen sicheren Ort mehr. Viele der Zivilisten in Rafah sind bereits mehrfach vor den Kämpfen geflohen.

Nach Angaben des Wall Street Journal hat Israel vorgeschlagen, für die zu evakuierende Bevölkerung weiter nördlich von Rafah große Zeltstädte zu errichten. Demnach soll Ägypten für die Einrichtung der Lager und Feldlazarette zuständig sein. Darüber hinaus habe die Regierung die in der Region tätigen UN-Organisationen gebeten, bei der Evakuierung der Zivilisten aus Rafah zu helfen. Der Sprecher des UN-Nothilfebüros Ocha, Jens Laerke, dementierte dies gegenüber der Deutschen Presse-Agentur. Die israelische Regierung habe nicht mit den Vereinten Nationen gesprochen. "Unabhängig davon werden wir uns nicht an Plänen zur Zwangsumsiedlung von Menschen beteiligen", sagte Laerke.

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock bei ihrer Ankunft in Israel. (Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa)

Annalena Baerbock (Grüne) reiste am Mittwoch zum fünften Mal nach dem terroristischen Angriff der Hamas nach Israel. Vor dem Abflug äußerte sich die Bundesaußenministerin ungewöhnlich deutlich und rief zu einer Feuerpause in Rafah auf. "Eine Offensive der israelischen Armee auf Rafah würde unter diesen Bedingungen die humanitäre Lage komplett zum Kippen bringen", so Baerbock. Die Menschen in Rafah könnten sich "nicht einfach in Luft auflösen". Sie bräuchten sichere Orte und sichere Korridore, um nicht weiter zwischen die Fronten zu geraten. "Gaza steht vor dem Kollaps", so Baerbock.

Um Hilfsgüter in den Gazastreifen zu lassen und die Geiseln zu befreien, brauche es ein Zeitfenster im Rahmen einer Feuerpause. Dazu liege ein katarisch-ägyptischer Vorschlag auf dem Tisch, wie eine Feuerpause und die Freilassung der Geiseln miteinander verbunden werden könnten. Für Baerbock selbst sind bei den Gesprächen über den politischen Prozess vier Elemente wichtig: "Sicherheitsgarantien, eine funktionierende Verwaltung, der Wiederaufbau von Gaza und der Aufbau eines palästinensischen Staates Seite an Seite in Frieden und Sicherheit mit Israel im Rahmen einer Zwei-Staaten-Lösung", erklärte die Ministerin."Sicherheitsgarantien bedeutet für Israel: Aus Gaza darf nie wieder eine terroristische Bedrohung für die Menschen in Israel ausgehen. Sicherheit für die Palästinenser bedeutet: Sie dürfen nicht aus Gaza vertrieben werden." Dazu dürfe das Territorium von Gaza nicht verkleinert werden, auch nicht in Pufferzonen an den Grenzen des Gazastreifens. Für eine funktionierende Verwaltung brauche es eine Basis, so Baerbock. Diese sehe sie in der Palästinensischen Autonomiebehörde. Sie sei die legitime Vertreterin der Palästinenser. "Sie ist die zu Frieden bereite Alternative zur Terrororganisation Hamas", so Baerbock.

Martin Griffiths, Leiter der Abteilung für humanitäre Angelegenheiten und Nothilfe der Vereinten Nationen, sagte am Dienstag, dass Militäroperationen in Rafah zu einem Massaker im Gazastreifen führen könnten. Auch aus der arabischen Welt wächst der Druck gegen die Offensive. Ägypten hat sogar damit gedroht, den 1979 abgeschlossene Friedensvertrag aufzukündigen. Auch Saudi-Arabien warnte Israel vor "ernsthaften Auswirkungen", sollte Rafah gestürmt werden.

Die Terroristen würden sich weiter hinter der Zivilbevölkerung verschanzen

Während die Warnungen, auch von Israels Verbündeten, vor einer Bodenoffensive lauter werden, wurde aus dem Norden des Landes erneut Raketenbeschuss aus Libanon gemeldet. Dabei wurden nach israelischen Angaben eine Frau getötet und acht weitere Menschen verletzt. Kurz nach dem Angriff hat die israelische Armee einen umfangreichen Gegenangriff gestartet. Dabei sollen laut libanesischen Quellen mindestens eine Person getötet und sieben weitere verletzt worden sein. Erst am Dienstag hatte Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah gesagt, eine Lösung für die Lage an der Nordgrenze werde es erst nach einem Waffenstillstand im Gazastreifen geben.

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Unterdessen veröffentlichten die IDF Aufnahmen des Hamas-Anführers Jahia Sinwar. Das Video soll Sinwar zu Beginn des Krieges gemeinsam mit seiner Familie in einem Tunnel zeigen. Dort habe er mit anderen Hamas-Kämpfern unter der Stadt Chan Yunis gelebt, während über ihnen der Krieg tobte, sagte der israelische Armeesprecher Daniel Hagari, der ein kurzes Video von einer Besichtigung des mutmaßlichen Verstecks veröffentlichte. "Die Jagd auf Sinwar wird nicht aufhören, bis wir ihn gefangen haben, tot oder lebendig", sagte Hagari.

Angehörige der Geiseln haben in den vergangenen Monaten gemeinsam mit Anwälten eine Klage wegen Kriegsverbrechen gegen die Führung der Terrororganisation Hamas vorbereitet. Nun sind sie nach Den Haag gereist, um sie dem Internationalen Strafgerichtshof vorzulegen. Die Klage wirft der Hamas-Führung unter anderem "Entführung, sexuelle Gewalt, Folter und andere schwere Vergehen" vor, wie das Forum mitteilte.

Auch Außenministerin Annalena Baerbock verurteilt die Taten der Hamas-Terroristen. Hätten diese nur einen Funken Mitleid mit den palästinensischen Frauen, Männern und Kindern, die in Gaza unter den Kämpfen leiden, würden sie ihre Waffen unverzüglich niederlegen. "Stattdessen verschanzen sich die Terroristen weiter hinter der Zivilbevölkerung."

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