"Die jungen Wähler sind die Zukunft der indischen Demokratie", sagte Rajiv Kumar, Chef der indischen Wahlkommission. Das war vor einem guten Jahr, am Tag der Wähler am 25. Januar 2023. "Es ist wichtig, dass die demokratischen Wurzeln bereits in der Schule gelegt werden." In einem Land wie Indien, dessen Bevölkerung enorm wächst, können die Jungen zweifellos eine Macht sein. Allerdings ist es nicht ganz einfach, sie in die Wahlkabinen zu locken.
Im Jahr 2009 startete die indische Wahlkommission ein Programm für "systematische Wählererziehung und Wahlbeteiligung", nachdem sich immer weniger Berechtigte registriert hatten. Die Wahlbeteiligung stieg darauf von 58,2 Prozent im Jahr 2009 auf 66,4 Prozent im Jahr 2014. 2023 stellten jedoch diverse Studien der Vereinten Nationen, des Internationen Währungsfonds und des Institute for Public Policy Research fest, dass das Vertrauen in politische Institutionen allgemein schwindet.
Bereits 2019 waren mehr als 45 Millionen 18- und 19-Jährige wahlberechtigt
Bei den indischen Parlamentswahlen 2019 zählten von den insgesamt etwa 900 Millionen Wahlberechtigten mehr als 45 Millionen zur Altersgruppe der 18- bis 19-Jährigen. Von denen aber ging weniger als ein Drittel zur Wahl. Korruptionsskandale, das Gefühl, nicht ausreichend repräsentiert zu werden, und der Glaube, dass ihre Stimme nicht viel bewirken könne, wirkten demotivierend auf die jungen Wähler. Auch, was in Indien Gerontokratie wird, wird als ein treibender Faktor für die Entfremdung junger Menschen von demokratischen Institutionen gesehen: Das Durchschnittsalter der gewählten Vertreter im indischen Parlament beträgt in der zu Ende gehenden Legislaturperiode 56,7 Jahre. Das Durchschnittsalter in Indien aber liegt derzeit bei 28,2 Jahren (zum Vergleich: in Deutschland bei 44,9 Jahren).
Für die kommenden Wahlen versuchen alle Parteien, Erstwähler zu gewinnen, junge Menschen, die noch nicht müde gespielt sind von der Politik des Landes. Die wichtigsten Themen für diese Zielgruppe seien Ausbildungsmöglichkeiten, weiterführende Bildung und die Schaffung von Arbeitsplätzen, schreibt die Economy Times of India. Klimawandel taucht nicht auf.
Alle Parteien geben an, dass Facebook im Gegensatz zu den Wahlen im Jahr 2019 eine weniger große Rolle spielen wird. Die Partei-Accounts auf der Plattform verzeichnen einen Rückgang des Engagements. Tiktok gibt es in Indien nicht. Die App wurde im Rahmen einer "Decoupling" genannten Abgrenzungskampagne von China mit einem Bann belegt. Dafür werden Instagram, Youtube und Whatsapp eine entscheidende Rolle bei der Wahlwerbung spielen. Die BJP plant, ihre Botschaften auch über Whatsapp-Gruppen zu verbreiten. Die Partei hatte bereits im Wahlkampf 2019 versucht, konsequent junge Wählerinnen und Wähler anzusprechen. Bei der kommenden Wahl könnte aber zum Problem werden, dass die heute 25- bis 30-Jährigen mit der BJP-Regierung aufgewachsen sind, und sich Gewöhnung eingestellt hat.
Die herkömmlichen Medien erreichen die Jungwähler ohnehin nicht mehr. Viele Jungwähler beziehen ihre Informationen nicht aus dem Fernsehen oder den Zeitungen, sondern von Youtubern. Sowohl die BJP als auch die oppositionelle Kongresspartei haben 2023 begonnen, intensiv Social-Media-Influencer einzusetzen, um ihre Botschaften zu verbreiten. Während seiner Wanderung durch das Land gab Rahul Gandhi, prominenteste Figur der Opposition, auch Youtubern exklusive Interviews. Das Portal NewsLaundry, das als Online-Medienwächter in Indien fungiert, berichtete im vergangenen Juli, dass sich die regierende BJP in mindestens 18 Bundesstaaten mit Influencern getroffen habe, als Teil ihrer Initiative zur Ansprache junger Wähler durch ihre Kampagne "Nine Years of Modi".
Das Online-Technikmagazin Rest of the World (RoW) wiederum titelte bereits Ende 2023: "Youtube ist die letzte Bastion des unabhängigen Journalismus in Indien." Seit Jahren übt die indische Regierung massiven Druck auf Zeitungen, Sender und Journalisten im Land aus. Der "World Press Freedom Index" führt Indien mittlerweile auf dem 161. von 180 Plätzen. Ausländische Medien wie die BBC, die beispielsweise über die Rolle von Narendra Modi bei den Ausschreitungen in Gujarat im Jahr 2002 berichtet haben, werden in Indien mit Steueruntersuchungen drangsaliert.
Das Oberste Gericht stoppt eine Regierungsprüfstelle für Online-Inhalte
RoW berichtete von Journalisten, die dem Druck ausgewichen sind, indem sie eigene Kanäle gegründet haben. Unter ihnen Ravish Kumar, einer der bekanntesten TV-Journalisten des Landes, der NDTV, einen der letzten regierungskritischen Sender, verlassen hat, nachdem der Milliardär und Modi-Vertraute Gautam Andani ihn gekauft hatte. "Es wäre nur eine weitere Medien-Kapelle geworden, die Modis Loblied zu singen hat", sagt Kumar, auch wenn es schwierig sei, den Youtube-Kanal journalistisch seriös zu betreiben und seinen Lebensunterhalt damit zu verdienen.
Die BJP-Regierung wiederum hat im vergangenen April eine IT-Vorschrift erlassen, die bewirken sollte, dass soziale Medien "angemessene Anstrengungen" unternehmen müssen, um keine Informationen über die Regierung zu veröffentlichen oder weiterzugeben, die nach Ansicht der Behörde "gefälscht, falsch oder irreführend" sind. Oppositionsgruppen und Medien kritisierten die Maßnahme. Am Donnerstag hat das Oberste Gericht in Delhi eine jüngst von der Regierung eingesetzte Stelle zur Überprüfung von Online-Inhalten auf Eis gelegt. Für die Jungwählerinnen und -wähler in Indien ist es bis auf Weiteres also gar nicht so schlecht, wenn sie auf soziale Medien umsteigen.