Historikertreffen im Schloss Bellevue:Wie Europa den Ersten Weltkrieg sieht

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Deutsche Soldaten helfen einem verwundeten kanadischen Soldaten während der Kämpfe bei Vimy in Belgien 1917. (Foto: AP)

Historiker aus aller Welt, von Bundespräsident Gauck ins Schloss Bellevue eingeladen, lassen die unterschiedlichen Sichtweisen der Nationen auf den Ersten Weltkrieg lebendig werden. Was lernen wir? Aus jeder Wendung der Geschichte lässt sich fast jede Lehre ziehen.

Von Kurt Kister, Berlin

Das Schloss Bellevue ist kein schlechter Ort, um gesittet über Grundfragen des Seienden und noch besser über solche des Gewesenen nachzusinnen. Der Amtssitz des Bundespräsidenten ist voller in ihrer Mehrheit pastellfarbener Teppiche, und die vielen zum steten Durchschreiten geeigneten Zimmer sind im zurückhaltenden Stil der gebildeten Teile des preußischen Adels möbliert. Wenn es hier spukte, kämen keine Geister in Kürassierstiefeln, sondern durchsichtige Schatten anämischer Prinzgemahlinnen.

Am Tag vor dem hundertsten Jubiläum der Morde von Sarajewo hatte Bundespräsident Joachim Gauck eine saalfüllende Anzahl von Historikern und anderen irgendwie interessierten Menschen ins Bellevue einladen lassen. Die sollten sich einerseits unter dem Motto "Europa erzählt vom Ersten Weltkrieg" der als Frage formulierten Feststellung "Geteilte Erinnerungen, gemeinsame Erfahrungen?" widmen. Andererseits konnte auch der Bundespräsident - vielleicht gerade dieser nicht - nicht umhin, eine weitere Frage zur gemeinsamen Bearbeitung zu stellen: "Hat Europa vom Ersten Weltkrieg gelernt?"

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Jeder Mensch, der sich für Geschichte mehr als für Fußball interessiert, ist eigentlich der Frage nach den Lehren der Geschichte etwas überdrüssig. Zum einen lässt sich aus nahezu jedem geschichtlichen Prozess je nach Standpunkt und Interpretationswillen des Betrachters fast jede Lehre ziehen. Zum anderen benutzten Politiker und Politikerähnliche die Geschichte stets und mit Lust als Magd der Politik.

Kein Wunder also, dass bei der nachmittäglichen Podiumsdiskussion Christopher Clark, der in Deutschland unversehens zum Bestsellerautor gewordene Australier, anmerkte, dass "die Vergangenheit (oft nur) als Spiegelbild unserer selbst" verstanden werde. "Die Geschichte schenkt uns keine Lehren", meinte Clark - jedenfalls nicht im Sinne von Handlungsanweisungen.

Karl Schlögel, der Osteuropa-Kenner und Großessayist, zeigte sich gar irritiert über die gegenwärtige Form des Interesses an 14/18. "Sind wir gefangen in den Zyklen der Erinnerung", fragte Schlögel, handele es sich bei dem Jubiläumsgetöse gar um eine Flucht vor der Gegenwart? Man kann verstehen, dass Menschen, die sich lange nicht unbeachtet, aber auch nicht direkt im Zentrum des allgemeinen Interesses stehend mit einem bestimmten Sujet beschäftigten, angesichts einer plötzlichen Aufmerksamkeitswelle skeptisch werden.

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Der Bundespräsident war von dieser Art Skepsis wenig angekränkelt. Er hatte sich vorgenommen, zur fortgeschrittenen Mittagsstunde eine nicht ganz grundsätzliche Grundsatzrede zum Weltkrieg gestern und heute zu halten. Dies gelang ihm, auch wenn er, wie Joachim Gauck dies gerne tut, seine eigenen Lebensthemen durch jene Prismen betrachtete, die für den jeweiligen Anlass geboten sind.

Den Weg zu Freiheit und Demokratie beschrieb er als den Kampf gegen die "Erlösungsideologien" des völkischen Nationalismus und des Kommunismus, die sich in der Folge der "Urkatastrophe" des Weltkriegs ausgebreitet hätten (der Präsident liebt starke, manchmal etwas zu bekannte Bilder).

Über 1918 und 1939/45 eilte Gauck in Siebenmeilenstiefeln nach 1989. Und von dort gelangte er zur Rückkehr der Kriege in den Neunzigern und schließlich zum neuen, alten Denken in Macht- und Einflusssphären, das sich in der "Destabilisierung fremder Staaten und Annexion fremder Territorien" Bahn breche. Gemeint war Putins Russland, natürlich. Die Debatte darüber nahm dann auf dem Podium mit Schlögel, Clark und anderen Großen, zu großen Raum ein.

Was die Betrachtung des Krieges und seines Erbes angeht, war der Vormittag im Bellevue deutlich ertragreicher. Acht Historikerinnen und Historiker aus acht europäischen Ländern analysierten die Rezeption des Krieges in ihrer jeweiligen Heimat. Sehr deutlich wurde, wie unterschiedlich die Erinnerungen an den Krieg und die Interpretationen des Krieges für politische Zwecke genutzt wurden und werden.

Selim Deringil aus Istanbul etwa schilderte am Beispiel der Schlacht von Gallipoli 1915, wie dieser osmanische Sieg durch die prägende Teilnahme des Offiziers Kemal, später Kemal Atatürk, zunächst zum neutürkischen Staatsmythos wurde. Fast noch interessanter war Deringils Darstellung, wie die Regierung Erdoğan heute Gallipoli zu einem panislamischen Ereignis umdefiniert und dadurch nicht nur entkemalisiert, sondern auf diese Weise Erdoğans AKP-Türkeiverständnis als fast logische Konsequenz - was können wir aus der Geschichte lernen? - der Niederlage des Westens an den Dardanellen erscheinen soll.

David Reynolds, Historiker in Cambridge, widmete sich der Ausgangsfrage auf jene unnachahmlich britische Art, deretwegen man eigentlich gerne eine Zeit lang dort leben möchte. Die Erinnerungen an den Great War seien in Europa bis heute sehr unterschiedlich, weil - anders als dies zumindest das Motto des Bellevue-Gedenktages insinuierte - eben auch die Erfahrungen höchst unterschiedlich seien. Die Briten hatten 14/18 gut doppelt so viele Tote zu verzeichnen gehabt wie einen Weltkrieg später.

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Im Zweiten Weltkrieg sei man existentiell bedroht gewesen, habe klar Recht und Moral verteidigt und den Feind zur bedingungslosen Kapitulation gezwungen. Diese Klarheiten habe es, so Reynolds im Great War nicht gegeben. Er sei bis heute auch als ein Krieg in Erinnerung, in dem eine bornierte Oberschicht mit einer ebensolchen Offizierskaste Zehntausende eigene Soldaten - etwa 1916 an der Somme - in einen sinnlosen Tod getrieben habe. Dies und die "trench experience", das Leben und Sterben im Graben, hat den Weltkrieg in Großbritannien zu einer Obsession werden lassen, die bis heute anhält.

Deutschland und Frankreich, führte der Cambridge-Professor aus, hätten es geschafft, ihre Westfront-Obsessionen gemeinsam zu überwinden - in erster Linie im Prozess der europäischen Integration. Dieser Prozess sei so etwas wie eine "exit strategy" aus der "Erbfeindschaft" gewesen. In Großbritannien aber, jenem Land der verspäteten, oft unwilligen Europäer, gab es diesen Prozess nicht - jedenfalls nicht in der Tiefe und Bedeutung wie auf dem Kontinent.

"Great War" und "Grande Guerre"

In Deutschland wird der Great War viel mehr als eine "Vorvergangenheit des Zweiten Weltkriegs" gesehen, wie das der Freiburger Historiker Jörn Leonhard ausführte. Leonhard vertritt sehr überzeugend das Konzept der "fragmentierten Erinnerung" an diesen Krieg. Es gebe sehr unterschiedliche Wahrnehmungen hierzulande, ganz zu schweigen vom Rest Europas.

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Nirgendwo sonst habe zum Beispiel die Kriegsschuldfrage eine so große Rolle gespielt wie in Deutschland, wo sie in der Fischer-Kontroverse Mitte der Sechzigerjahre ein letztes Mal kulminierte (manches in der Rezeption von Christopher Clarks Bestseller "Die Schlafwandler" ist ein später Nachklang davon). Dies hängt eng damit zusammen, dass der Erste Weltkrieg so schrecklich in die "Katastrophengeschichte deutscher Nationalstaatlichkeit" (Leonhard) in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts passt.

Leonhards französische Kollegin Elise Julien wiederum führte beeindruckend präzise aus, dass man in Frankreich zwar den Grande Guerre durchaus nicht nur als Vorgeschichte des anderen großen Krieges versteht, aber keineswegs weil er, wie in Großbritannien, nicht als "good war" gelte - im Gegenteil. Im Ersten Weltkrieg kämpfte ein einiges Frankreich entbehrungs-, aber dann siegreich gegen die Deutschen; im Zweiten Weltkrieg erlitt ein uneiniges Frankreich eine katastrophale Niederlage und lebte Jahre lang unter deutscher Besatzung mit Widerständlern, Kollaborateuren und Unentschlossenen.

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Einig war man sich unter den Historikerinnen und Historikern, dass ein Teil des großen Interesses am Ersten Weltkrieg auch dadurch zu erklären sei, dass er gerade noch in der "kommunikativen Erinnerung" verankert sei. Viele reife Menschen des Jahres 2014 hätten als Kinder und junge Leute ihre Großmütter und -väter noch über diesen Krieg erzählen hören. Leonhard berichtete davon, dass er bei Vorträgen und Lesungen immer wieder Geschichten über "den Großvater" erzählt bekomme.

Dass das unter Historikern ganz ähnlich ist, bewiesen im Bellevue der Russe Boris Kolonitskii von der Universität St. Petersburg und der Pole Maciej Gorny aus Warschau. Kolonitskii erzählte, dass sein Opa sich freiwillig zur Armee des Zaren gemeldet habe, um dem Elend des Kleinbauern-Daseins zu entkommen. Gorny wiederum erzählte von seinem Urgroßvater, der damals im russischen Teil Polens lebte. Er sei ins Priesterseminar eingetreten, um nicht in der Armee des Zaren dienen zu müssen. Fragmentierte Erinnerung.

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© SZ vom 30.06.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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