Parteitag der Grünen:Lieber regieren als maximal fordern

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Die Parteioberen der Grünen um Annalena Baerbock und Robert Habeck können sich bei der Bundesdelegiertenkonferenz mit vielen Forderungen durchsetzen. (Foto: Kay Nietfeld/dpa)

Die Grünen-Spitze übersteht den Beginn des Parteitags unfallfrei und verhindert radikale Klimabeschlüsse. Doch die nächsten Kampfabstimmungen sind schon in Sicht.

Von Constanze von Bullion, Berlin

Die Partei, auf die alle schauen. So nennt Robert Habeck seinen Laden irgendwann. Eine Beschreibung ist das, die so ziemlich alles umreißt, was sich zwischen dem Umfragehimmel von gestern und dieser besonderen Art der Hölle abspielt, durch die die Grünen gerade müssen.

Freitagabend in einer ehemaligen Pakethalle der Post in Berlin-Kreuzberg, 80 Neumitglieder der Grünen sitzen vor einer Bühne auf weiträumig verräumten Stühlen. Zwischen Industriemauern und einem künstlich angelegten Gärtchen veranstalten die Bündnisgrünen ihren 46. Bundesparteitag. Die meisten Delegierten sitzen pandemiebedingt zu Hause vor dem Bildschirm, einige wenige Gäste aber sind im Saal präsent. Bis Sonntag soll hier das Bundestagswahlprogramm der Grünen verabschiedet werden. Am Samstagnachmittag wird sich Annalena Baerbock als Kanzlerkandidatin dem Votum des Parteitags stellen, in einem Wahlgang mit ihrem Spitzenteamgenossen Robert Habeck.

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Aufgehübschter Lebenslauf, nicht angemeldete Nebeneinkünfte, sinkende Umfragewerte: Baerbock braucht die Trendumkehr auf dem Parteitag.

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Was eigentlich als Gute-Laune-Treff mit engagierter Fachdebatte gedacht war, hat sich unversehens zu einem eher anspruchsvollen Manöver entwickelt, jedenfalls für Baerbock. Die Spitzenkandidatin der Grünen kämpft seit Wochen gegen harte Kritik und sinkende Umfragewerte, weil sie mehrfach ihren Lebenslauf korrigieren musste und den Eindruck erweckte, es mit der biografischen Selbstoptimierung übertrieben zu haben.

Am ersten Tag des Parteitags sieht man sie nur minutenweise, während ihr Mitstreiter Robert Habeck bis in den Abend ausgedehnte Spaziergänge durch den Saal unternimmt, hie und dort ein bisschen plaudert, gut gebräunt und mit demonstrativ guter Laune.

Habeck ist es auch, der am ersten Tag der Zusammenkunft mehrfach auf die Bühne geht und zunächst eine Auftaktrede hält, die einige Klischees über die Grünen zu widerlegen sucht. Anderen Vorschriften zu machen, eine Verbotspartei zu sein, Verzicht zu predigen - alles falsche Vorstellungen von den Grünen, meint der Parteichef.

Gut gebräunt diskutiert Parteichef Habeck beim Parteitag der Grünen über Klimaziele, den Verbrennungsmotor und ein Tempolimit. (Foto: Sean Gallup/Getty Images)

Durch ihr Wahlprogramm ziehe sich vielmehr ein Freiheitsbegriff, der darin bestehe, sich selbst gesellschaftliche Rahmenbedingungen setzen zu können. Die Freiheit, mit dem Nachtzug von Hamburg nach Rom reisen zu können, gehöre dazu, oder die Freiheit von Gewalt oder Zensur. "Freiheit ist nämlich nicht Regellosigkeit, und dass alle machen was sie wollen", sagt Habeck. "Freiheit bedeutet, wohlverstanden, über die Regeln und die Bedingungen des eigenen Lebens selbst zu bestimmen."

Wenn sich die Bedingungen des Lebens und der Gesellschaft aber änderten, dann müssten die Regeln eben auch verändert werden, soll das heißen. Später wird Habeck noch darauf hinweisen, dass Wandel, auch eine ökologische und soziale Klimawende, nur möglich werde "mit der Mehrheit der Menschen in Deutschland". Das ist ein deutlicher Hinweis an den Parteitag, die Wählerinnen und Wähler nicht zu überfordern mit radikalen Klimaforderungen, für die es keine ausreichend breite Unterstützung gebe.

Womit der Parteitag auch schon bei der Klimapolitik angekommen ist, die am Freitagabend das wichtigste Thema ist. Eine Abstimmung über den CO₂-Preis steht da an, die der Parteivorstand nicht verlieren darf. Er hat im Entwurf des Wahlprogramms gefordert, den Preis für eine Tonne CO₂ bis 2023 auf 60 Euro zu erhöhen. Klimaaktivisten, unter ihnen viele Jüngere, halten das nicht für ausreichend, wenn die Ziele des Klimaabkommens von Paris bis 2030 erreicht werden sollen.

"Auch wenn wir alle Kohlekraftwerke abschaffen, brauchen wir eine starke CO₂-Bepreisung, um den 1,5 Pfad zu schaffen", sagt Jakob Blasel. Der junge Grüne, der im Herbst in den Bundestag will, führt beim Parteitag ein Bündnis von Klimabewegten an, die die Grünenspitze zu einer entschlosseneren Klimapolitik verpflichten wollen.

Am zweiten Tag geht es um den Spitzensteuersatz

Habeck hält die Gegenrede, warnt die Delegierten davor, zu stark an der Preisschraube zu drehen. Er rechnet Blasel den Anstieg der CO₂-Abgaben vor, die kontinuierlich ansteigen würden, könnte er sich durchsetzen. Das sei vielen Menschen nicht vermittelbar. "Wenn wir diese Menschen zu schnell verlieren, dann verlieren wir das Projekt Energiewende", ruft der Parteivorsitzende in den Saal. Blasel verliert die Abstimmung, mit deutlichem Anstand.

Und auch an anderer Stelle macht der Parteitag deutlich, dass Regieren unter Umständen doch schöner sein und mehr Veränderung bewirken könnte als eine Reihe von Maximalforderungen auf dem Papier. Auch die Forderung, auf Landstraßen ein Tempolimit von 70 Stundenkilometern einzuführen, wird am Freitagabend keine Zustimmung finden. Die Idee, auf Autobahnen maximal Tempo 100 zuzulassen, war schon vor der Abstimmung abgeräumt worden. Durchsetzen kann sich die Grünenspitze mit ihrem Vorschlag, Autos mit Verbrennungsmotor ab 2030 nicht mehr zuzulassen. Die Forderung, das Datum auf 2025 vorzuverlegen, scheitert.

Den ersten Tag der grünen Bundesdelegiertenkonferenz also haben die Parteioberen unfallfrei überstanden. An diesem Samstag stehen schon die nächsten Kampfabstimmungen ins Haus, am frühen Abend aber auch das Thema Wirtschaft. Die Grünen haben sich Ex-Siemens-Chef Joe Kaeser eingeladen, der Sympathie für ihre Forderungen nach einem ökologischen Umbau der Industrie signalisiert hat. Am Abend soll beim Parteitag über die Anhebung des Spitzensteuersatzes gestritten werden, Ausgang offen.

Zunächst wird am Samstagvormittag aber das Kapitel "Solidarität sichern" aufgeschlagen. Mit einer ganzen Reihe von Forderungen wollen die Grünen ihre Forderungen eines klimaneutralen und digitalen Umbaus mit sozialpolitischen Vorschlägen unterfüttern. Im Wahlprogramm wird etwa eine Anhebung des Mindestlohns auf zwölf Euro angekündigt. "Anschließend muss der Mindestlohn weiter steigen, um wirksam vor Armut zu schützen und mindestens der Entwicklung der Tariflöhne zu entsprechen", heißt es. Deutlich gestärkt worden soll zum Beispiel die Situation des Pflegepersonals. Aber auch über die Forderung der Grünen Jugend, staatliche Arbeitsplätze zu Verfügung zu stellen, wenn sie in der Privatwirtschaft fehlen. "Millionen Menschen sind auf Arbeitssuche und unfreiwillig arbeitslos. Für sie braucht es eine Jobgarantie", heißt es in dem Antrag. Die Erfolgschancen galten allerdings als gering.

Überhaupt, der Parteinachwuchs schlägt deutlich linkere Töne an als die Bundesspitze. Wenn man das Wahlprogramm ernst nehme, sei eine Koalition mit der Union keine Option, sagte die Vorsitzende der Grünen Jugend, Anna Peters, dem Deutschlandfunk. Die Parteioberen dürften das anders sehen. Zur Debatte steht auch die Erhöhung der Grundsicherung, der Bundesvorstand will sie in einem ersten Schritt um mindestens 50 Euro anheben, die Grüne Jugend um 200 Euro, sofort. Zur Kampfabstimmung wird es im Bereich Wohnen kommen. "Um die Spekulation mit dem Grundrecht Wohnen einzudämmen, kann auch die Vergesellschaftung der Bestände großer Wohnungskonzerne notwendig werden", fordert ein Antrag. Dass er sich durchsetzen würde gegen entschlossene Gegenwehr des Parteivorstands, galt als unwahrscheinlich.

Und dann, am Nachmittag: die Wahl von Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock, mutmaßlich gefolgt von einer Ermunterungsrede. Langweilig jedenfalls dürfte es nicht werden.

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