Großbritannien:Big Brexit Bong

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Bis zu einer halben Million Pfund würde es kosten, den weltberühmten Uhrturm am Palace of Westminster erklingen zu lassen. (Foto: Adrian Dennis/AFP)
  • Der Wunsch vieler Konservativer in Großbritannien ist, dass Big Ben, die schwerste Glocke am Westminster-Palace am Abend des Brexit erklingt.
  • Wegen Renovierungsarbeiten wird das aber sehr aufwendig und teuer. Premier Johnson plant deshalb ein Crowdfunding.
  • Die Brexiteers der Leave-EU-Kampagne rufen außerdem dazu auf, nach dem EU-Austritt den ersten Morgen der Unabhängigkeit mit Glockenschläge zu zelebrieren.
  • Wegen der Diskussion fällt es nicht groß auf, dass Johnson beim Handelsabkommen mit der EU plötzlich nicht mehr so entschlossen klingt.

Von Alexander Mühlauer, London

Boris Johnson kann auch nicht so recht erklären, warum es eine halbe Million Pfund kosten soll, dass Big Ben am Tag des Brexit läutet. Es habe etwas mit dem Glockenklöppel zu tun, erklärte der Premier in der BBC, aber Genaueres wisse er nicht. Eines weiß er hingegen ganz gewiss: Dass die Brexiteers in seiner Konservativen Partei so gut wie alles dafür in Bewegung setzen wollen, damit Big Ben am 31. Januar um 23 Uhr Londoner Zeit schlägt. Dann verlässt das Vereinigte Königreich nach 47 Jahren Mitgliedschaft die Europäische Union. Und als Symbol für die vermeintliche Freiheit und Unabhängigkeit soll an diesem historischen Tag der vertraute Glockenschlag von Big Ben erklingen. Ein Big Brexit Bong sozusagen.

Nun ist es aber so, dass der weltberühmte Uhrturm am Palace of Westminster derzeit aufwendig renoviert wird. Big Ben, mit über 13 Tonnen die schwerste von insgesamt fünf Glocken, ist nur bedingt einsatzbereit. Glaubt man Bauexperten, wäre es durchaus machbar, die britische Ikone erklingen zu lassen, doch das kostet. Die mit der Frage beauftragten Beamten des House of Commons rechnen mit einem Betrag von bis zu 500 000 Pfund. Dem Vernehmen nach liegt das Problem nicht nur am Glockenklöppel, es müsste auch rasch ein neuer Boden in den Elizabeth Tower eingezogen werden. Das alles würde die Renovierungsarbeiten verzögern, was allein mit etwa 100 000 Pfund pro Woche veranschlagt wird.

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Doch so viel Geld für einen Wunsch der Brexiteers auszugeben, gilt selbst dem austrittsfreudigen Premierminister als nicht vermittelbar. Johnson hat deshalb eine neue Idee ins Spiel gebracht. "Wir arbeiten an einem Plan", versprach er jedenfalls in der BBC. Da der Big Bong teuer sei, werde er prüfen lassen, ob die Allgemeinheit dazu bereit ist, dafür zu spenden. "Bung a bob for a Big Ben bong" heißt das in den Worten des alliterationsverliebten Premiers. Weil die Sache mit dem Crowdfunding aber hochgradig unsicher ist, haben die Brexiteers der Leave-EU-Kampagne dazu aufgerufen, alle Kirchenglocken des Landes am 1. Februar um neun Uhr morgens zu läuten. So wie das Vereinigte Königreich 1945 den Sieg der Alliierten über Nazideutschland mit Glockenschlägen würdigte, soll nun "der erste Morgen unserer Unabhängigkeit" zelebriert werden.

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Dagegen hat sich aber das für diese heiklen Fragen zuständige Gremium ausgesprochen. Der Central Council of Church Bell Ringers, gegründet 1891, erklärte, dass er das Ansinnen der Brexiteers nicht unterstützen werde. "Es gibt historische Momente, an denen die Glocken läuteten, zum Beispiel am Ende von Weltkriegen", hieß es in einer Erklärung. Und weiter: "Der Rat lehnt Glockenläuten aus politischen Gründen grundsätzlich ab." Diesem Urteil schlossen sich sogleich mehrere Bischöfe des Landes an. "Zwei Drittel der Bevölkerung haben niemals für den Brexit gestimmt", sagte etwa Alan Wilson, Bischof von Birmingham. Aus seiner Sicht wäre ein Big Bong am Tag des EU-Austritts ein Zeichen der "tiefen Spaltung". Die Kirchen seien für die gesamte Gesellschaft da, nicht für eine politische Gruppe.

Johnson kommt die Big-Bong-Debatte zum Brexit recht gelegen. Solange darüber diskutiert wird, fällt es nicht weiter auf, dass er plötzlich nicht mehr so entschlossen klingt, ein Handelsabkommen mit der EU bis Ende des Jahres zu erreichen. So deutete er in einem Interview an, dass es durchaus eine, wenn auch geringe Möglichkeit gebe, dass seine selbst gesetzte Deadline gerissen werde. Es sei "sehr, sehr, sehr wahrscheinlich", dass es einen Deal bis 31. Dezember gebe. Nichtsdestotrotz müsse man sich immer für "ein völliges Versagen des gesunden Menschenverstandes rüsten". Er gehe aber davon aus, dass ein Vertrag "äußerst wahrscheinlich" sei. Gelingt das nicht, droht ein No-Deal-Brexit.

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Johnson wäre es am liebsten, wenn das leidige Thema von den Titelseiten der Zeitungen verschwinden würde. Und so gibt er sich seit Jahresbeginn Mühe, eine andere Agenda zu setzen. In dieser Woche war er schon in Nordirland, um dem dortigen Regionalparlament Finanzhilfen von zwei Milliarden Pfund zuzusagen. Er lehnte ein zweites schottisches Unabhängigkeitsreferendum per Brief ab. Und er kündigte eine "Law and Order Taskforce" an, die gegen Gang-Kriminalität vorgehen soll.

Die Opposition wirkt derweil wie gelähmt. Im Parlament tritt Labour-Chef Jeremy Corbyn noch humorbefreiter auf als vor der Wahl im Dezember. Er wird dort allerdings weiterhin zu sehen sein. Corbyns Nachfolge klärt sich erst im April. Bis dahin versuchen fünf Bewerber, vier Frauen und ein Mann, die eigene Partei von sich zu überzeugen. Als Favorit gilt Keir Starmer, der sich stets für den Verbleib Großbritanniens in der EU ausgesprochen hatte. Doch seit Johnsons Wahlsieg steht diese Option, anders als der Big Bong, nicht mehr zur Debatte.

© SZ vom 16.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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