Das Idol hat es nicht persönlich nach München geschafft. Glenn Greenwald, der mit dem Whistleblower Edward Snowden die globalen Überwachungspraktiken des US-Geheimdienstes NSA aufgedeckt hat, spricht nur via Videokonferenz zu den 250 Besuchern der Diskussion über "Freiheit und Demokratie". Organisiert wird sie von der Gruppe "acTVism Munich", der Themen wie Bürgerrechte und Massenüberwachung sowie atomare Bedrohung und Militarisierung wichtig sind. Genau darüber diskutiert Moderator Zain Raza auch mit Jill Stein, einst Präsidentschaftskandidatin der US-Grünen, und der Medien-Aktivistin Abby Martin.
Aber die Amerikanerinnen verfügen nicht über die Starpower des Pulitzerpreis-Trägers Greenwald, der sich von seiner Wahlheimat Rio de Janeiro aus mit (fast) allen anlegt und gern vorherrschende Meinungen anzweifelt. Der 51-Jährige ist überzeugt, dass die Präsidentschaft von Donald Trump gar nicht jener "radikale Bruch" sei, über den Experten entsetzt redeten. "Ja, seine Rhetorik und sein Stil sind anders, aber in vielen Feldern ist die Politik gleich geblieben", betont Greenwald.
Spieltheorie:So verstehen Sie Donald Trump
Für den US-Präsidenten ist derjenige, der zuerst nachgibt, ein Feigling. Die Spieltheorie kann helfen, diese Haltung endlich zu entschlüsseln. Doch selbst dann muss die EU mitspielen.
Er verweist auf die schwärmerischen Worte, mit denen Trump Ägyptens General Abdel Fattah al-Sisi ( "eine einzigartige Persönlichkeit") lobt. "Diese Schmeichelei ist vielen peinlich und deswegen wird so getan, als sei diese Umarmung von Tyrannen neu in der US-Außenpolitik", ätzt Greenwald. Dabei kooperiere Washington seit Jahrzehnten mit Regimen, denen Menschenrechte egal seien.
Als Wahlkämpfer habe Trump zwar getönt, die Militarisierung zu stoppen, Soldaten von US-Militärbasen zurückzuholen und Washingtons globale Rolle zu reduzieren, sagt Greenwald. Am Status Quo habe sich aber wenig geändert, konstatiert der Journalist, der einst für den Guardian arbeitete und seit 2014 vor allem auf der von ihm mitgegründeten Website The Intercept publiziert.
Nicht Trump habe Überwachung des Internet angeordnet, sondern Bush und Obama
Bei seinem Video-Auftritt ruft Greenwald zu Recht in Erinnerung, dass die globale Überwachung des Internets nicht erst unter Präsident Trump begonnen habe - sondern eben unter George W. Bush und Barack Obama. Es sei der Demokrat Obama gewesen, in dessen Amtszeit die US-Unterstützung für den von Saudi-Arabien geführten Krieg gegen Jemen begonnen habe.
Die Klage, dass zu wenig über das Leiden der jemenitischen Zivilbevölkerung berichtet werde, ist angesichts von mindestens 10 000 Toten und weiter drohenden Cholera-Epidemien berechtigt; aber die harsche Medienkritik wirkt oft platt. Wer jeweils mit "die Medien" gemeint ist, wird selten präzisiert: Geht es um TV-Sender und Websites in den USA (Kampfbegriff "corporate media") oder jene in Deutschland? Natürlich führt es zu Unschärfen, wenn US-Aktivistinnen in München auftreten, aber solche Pauschalurteile entwerten manch interessante Argumente ebenso wie das Geraune über die Gefahr durch "Amerikas Imperium".
Denn natürlich hat Greenwald recht, wenn er über den Facebook-Cambridge-Analytica-Skandal sarkastisch sagt: "Ich bin immer überrascht, dass so viele Leute noch überrascht sind, dass dem Silicon Valley unsere Privatsphäre egal ist." Nur wenige wissen besser als der Investigativjournalist, wie eng die Tech-Konzerne früher mit Geheimdiensten kooperiert haben und dass die heute üblichen Verschlüsselungstechniken nicht aus Überzeugung, sondern aus wirtschaftlichem Kalkül einführt wurden: Die Kunden sollen nicht abwandern.
Greenwald hält Debatte über Trumps Russland-Connection für überzogen
Dass Glenn Greenwald in letzter Zeit seltener wahrgenommen wird, liegt auch daran, dass er mittlerweile vor allem beim konservativen Kabelsender Fox News auftritt. Denn der Jurist hat in Sachen Russiagate eine völlig andere Meinung als der Mainstream: "Amerikas Reaktion auf Russland ist völlig irre." Diese Zuspitzung ist typisch für Greenwald, sie garantiert Aufmerksamkeit und macht es Kritikern einfach, jene Fragen abzutun, die in diesen aufgeregten Zeiten aus dem Blickfeld geraten.
Denn natürlich ist es wichtig, wenn Greenwald oder Jeremy Scahill (der Experte für Amerikas Drohnenkriege war 2017 Stargast bei acTVism) betonen, dass es völlig überzogen ist, wenn beim liberalen Kabelsender MSNBC die vermutete Einmischung Moskaus in die US-Wahl 2016 zugunsten von Donald Trump mit Pearl Harbor gleichgesetzt wird - jenem japanischen Bombenangriff auf einen US-Stützpunkt, der zum Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg führte. Nicht nur angesichts der russischen Atomwaffen sei es geboten, rhetorisch abzurüsten.
Und es stimmt, dass viele Demokraten ununterbrochen über den gefährlichen Mastermind Putin reden. So lasse sich eine viel unangenehmere Debatte vermeiden, wie Greenwald sagt: "Sie wollen sich nicht damit auseinandersetzen, warum sie gegen einen Gameshow-Moderator verloren haben. Sie sind eben längst keine Volkspartei mehr." Er beschreibt auch etwas, was in Europa regelmäßig zu hören ist: Meist werde Donald Trump als impulsiver Idiot beschrieben, der mental nicht stabil sei ("sein Twitter-Feed gibt Anlass dazu"). Wenn es allerdings um die Absprachen mit Moskau gehe, dann sei Trump nach Ansicht progressiver Amerikaner plötzlich zu enormer Disziplin fähig.
USA:Vorsicht, Russland-Paranoia
Warum die amerikanische Debatte über Donald Trumps mögliche Geheimverbindungen zu Moskau und Wladimir Putin so irrational geworden ist.
Es ist legitim, diese Widersprüche zu benennen und auch der Meinung zu sein, dass die Öffentlichkeit bisher nur unzureichende Belege für eine russische Einflussnahme erhalten hat. Der 25-seitige Geheimdienst-Bericht aus dem Januar 2017 nennt wenig Details und überzeugt kaum, wenn man wie Greenwald die US-Behörden kritisch sieht (für ihn ist Robert Mueller weiter der langjährige FBI-Chef, der den Ausbau der "globalen Überwachung" vorantrieb).
Aber der 2014 mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnete Journalist verdreht auch die Tatsachen, wenn er behauptet, dass Trump als Präsident härter gegenüber Moskau vorgegangen sei als Obama. Gewiss: Die Sanktionen wurden verschärft und Dutzende russische Diplomaten ausgewiesen, doch es war der US-Senat, der Trump dazu zwang. Diese Information verschweigt Greenwald bei der AcTVism-Veranstaltung, wo er kritische Nachfragen nicht fürchten muss. Die ehrenamtlichen Organisatoren wollen "unabhängigen Bürgerjournalismus" etablieren und Gleichgesinnte nicht verprellen.
Greenwalds Hardcore-Position in Sachen Russiagate ist auch unverständlich für zahleiche regierungskritische Journalisten. James Risen arbeitete einst für die New York Times und wurde mit Gefängnishaft bedroht, weil er seine Quellen nicht preisgeben wollte. Er arbeitet ebenfalls für The Intercept und wirft Greenwald vor, an den Fakten nicht wirklich interessiert zu sein, sondern die Angelegenheit als Gefahr für seine politische Agenda zu sehen.
Diese Vermutung ist nicht unplausibel, wenn man Greenwald in München zuhört. Er sieht sich als Kämpfer gegen ein feindliches System. Im Januar sagte er dem New York Magazine, worum es ihm geht: "Wenn Trump sowohl der Anfangs- als auch der Endpunkt unserer Diskussionen über US-Politik wird, dann werden wir nie darüber diskutieren, warum Millionen Bürger im heutigen Wirtschafts- und Politsystem unter die Räder kommen und deswegen Trump gewählt haben."
Die Überzeugung, dass Hillary Clinton als Präsidentin kaum besser wäre als Trump, ist unter US-Linken oft zu finden. Auch die Grüne Jill Stein denkt so und hält Russiagate größtenteils für eine Ablenkung. Von Demokraten wird sie angefeindet, weil diese überzeugt sind, dass der Republikaner Trump nur deswegen im Weißen Haus sitzt, weil in Michigan und Wisconsin zehntausende Bürger für Stein votierten - und dies hätte Clinton den Sieg gekostet ( in Wahrheit wären die meisten Stein-Wähler daheim geblieben, wenn sie nicht kandidiert hätte).
Zuletzt musste Stein viel Zeit investieren, um Dokumente an den Geheimdienst-Ausschuss des Senats zu übergeben. Dass sie 2015 am gleichen Gala-Dinner in Moskau teilnahm wie Trumps wegen seiner Russland-Kontakte geschasster Ex-Sicherheitsberater Mike Flynn und auch noch mit Wladimir Putin am Tisch saß, macht die Grüne für manche zur Agentin Russlands. Unterlagen zeigen jedoch, dass sie ihre Reise selbst bezahlt hat. Stein betont, dass sie kein einziges Wort mit Putin gewechselt habe, der ohnehin nur wenige Minuten im Raum war.
All dies sei eine "Schmutzkampagne" gegen sie, klagt die frühere Ärztin, weil sie die Wahrheit nicht verschweige. Wer darüber spreche, dass von der Steuerpolitik nur das oberste Prozent der Bevölkerung profitiere, wenige Milliardäre nach dem "Citizen United"-Urteil die Politik Spenden beeinflussten oder Gesundheitsversorgung als Grundrecht ansehe, dem werde vorgeworfen, "Russian talking points" zu verbreiten und die Gesellschaft spalten zu wollen.
Steins Klagen über die wachsende soziale Ungleichheit sind durch Studien gedeckt; selbst Forscher von Elite-Unis nennen die USA längst eine Oligarchie. Doch ihre Kritik wäre glaubwürdiger, wenn sie weniger häufig von "Amerikas Imperium" sprechen würde, das neben dem Militär auch aus den beiden großen Parteien und der US-Wirtschaft bestehe. Das klingt ziemlich nach Verschwörungstheorie.
Gewiss: Die Spitzen von Demokraten und Republikanern sind Kapitalisten, aber von allumfassenden Absprachen kann keine Rede sein. Und natürlich werden kleine Parteien in den USA stark benachteiligt, doch 2016 hat Bernie Sanders bewiesen, wie der richtige Kandidat mit der richtigen Botschaft Millionen begeistern kann. Noch heute erreicht der Senator aus Vermont mit seinen Facebook-Videos Millionen Zuschauer, während Steins letzter Clip in einer Woche 13 600 Mal geklickt wurde.
Das verführerische Gerede über ein "American empire"
An die Existenz eines allmächtigen "US-Imperiums" glaubt auch Abby Martin. Die 33-jährige Kalifornierin berichtet in München stolz davon, dass sie als Moderatorin von "Russia Today" live die Annexion der Krim kritisiert habe und trotz allem ein Jahr ihren Job behalten habe. Dass sie lange die Anschläge von 9/11 für einen "Inside Job" der US-Regierung hielt, erfahren die Zuhörer leider nicht.
Martins aktuelle Sendung "Empire Files" läuft auf dem englischen Kanal des lateinamerikanischen Senders Telesur, den konservative Amerikaner für ein Propaganda-Instrument Venezuelas halten. Dies sei Verleumdung, sagt Martin: Sie habe völlige redaktionelle Freiheit, wenn sie "aus dem Herzen dieses Imperiums" berichte. Ihre linke Agenda verbirgt Abby Martin nicht, wenn sie die USA als eine "Zwei-Parteien-Diktatur" bezeichnet.
Sie sieht sich als Aktivistin, die aufrütteln will. Irgendwie passt es zu diesem Abend, was Martin über den russischen Auslandsender RT sagt: "Es ist doch gut, wenn man weiß, was Russland denkt." Auch wenn deutlich mehr kritische Nachfragen der Diskussion gut getan hätten, so zeigen die Auftritte von Martin, Jill Stein und Glenn Greenwald, wie die amerikanische Linke denkt - und auch warum sie sich weiterhin so schwer tut.
Seite Drei zum Staatsbesuch von Angela Merkel:Spaß beiseite
Emmanuel Macron war drei Tage bei Donald Trump, es gab viel Lob und große Gesten. Angela Merkel ist drei Stunden in Washington: Und es geht ihr nur darum, Schlimmeres zu verhindern.
Wer sich selbst ein Bild machen will, kann einen Mitschnitt der Diskussion mit deutschen Untertiteln vom 8. Mai an auf www.actvism.org ansehen.