Gerechtigkeit:Baerbock plädiert für einen "Bildungsschutzschirm"

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Annalena Baerbock, Bundesvorsitzende der Grünen (Foto: Britta Pedersen/dpa)

Die Grünen-Chefin will Schulen möglichst schnell für die Kleinsten und Kinder mit Lernschwächen öffnen. Sie fordert bessere Ausstattung, schlankere Lehrpläne, weniger Prüfungen - das Sitzenbleiben will sie aber nicht abschaffen.

Von Paul Munzinger, München

Je länger die Schulen geschlossen sind, desto drängender stellen sich zwei Fragen: Wie groß ist das Loch, das die Pandemie in der Ausbildung von Kindern und Jugendlichen hinterlässt? Und wie lässt es sich wieder schließen? Nach einer Expertengruppe im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) hat nun auch Annalena Baerbock einen Plan vorgelegt, um die Folgen der zwei Lockdowns an den Schulen zu lindern. Die Grünen-Vorsitzende und Vielleicht-bald-Kanzlerkandidatin schlägt einen "Bildungsschutzschirm" vor. Beide Konzepte weisen zahlreiche Parallelen auf - und zwei bemerkenswerte Unterschiede.

Wie die FES-Kommission geht auch Baerbock davon aus, dass Corona Gerechtigkeitsdefizite des deutschen Bildungssystems verschärft. Die Pandemie mache allen Schülerinnen und Schülern das Leben schwer, aber die, die es ohnehin nicht einfach haben, treffe sie besonders hart. Der Soziologe Aladin El-Mafaalani, der den Baerbock-Plan am Mittwoch gemeinsam mit der Grünen-Chefin vorstellte, wählte dafür ein etwas schiefes Bild: Die Schere an den Schulen zeige nach unten und öffne sich gleichzeitig weiter.

El-Mafaalani hat einen guten Draht zur Parteispitze der Grünen. Die Vorstellung seiner viel beachteten und gelobten Analyse "Mythos Bildung" moderierte im Februar 2020 Baerbocks Co-Parteichef Robert Habeck. Den Schulen, kann man dort lesen, gelinge es nicht, gesellschaftliche Unterschiede ausreichend auszugleichen. Aber: Ohne Schulen wäre die Ungleichheit noch größer. Ohne Schulen - das war ein Gedankenexperiment, als El-Mafaalani sein Buch schrieb, zur Zeit ist es Realität. Wie weit sich die Schere aber tatsächlich öffnet, das weiß auch der Soziologe nicht. Studien dazu liegen, zumindest aus Deutschland, noch nicht vor.

Kinder verlernen das Einmaleins, sagt Baerbock

Ein Fünftel der Schüler, davon geht Baerbock aus, sei mit Bildungsangeboten nur schwer oder gar nicht zu erreichen, solange die Schulen geschlossen sind - vor allem kleinere Kinder und jene, die ohnehin Schwierigkeiten haben. Sie verlernten nicht nur das Einmaleins, es drohten auch negative Folgen für ihr Sozialverhalten und ihre Gesundheit, weil sie sich zu wenig bewegten. Diese Kinder müssten nun Priorität haben.

Ihre Wunschliste sieht zwei Arten von Maßnahmen vor: materielle und pädagogische. Baerbock fordert unter anderem, die Schulen mit Masken und Schnelltests auszustatten, zusätzliche Busse anzumieten und Räume außerhalb der Schulen zu erschließen, um Unterricht in Kleingruppen zu ermöglichen. Der Lehrplan soll verschlankt, die Zahl der Prüfungen reduziert werden. Klassenzimmer mit schlechtem Internet sollen über "Speedboxen" und ähnliche Router ans Wlan angeschlossen werden.

Für Schüler mit großen Lerndefiziten sollen die Schulen wieder öffnen, fordert Baerbock - für Unterricht in Kleingruppen. Es gehe darum, eine "sichere Lernumgebung" zu ermöglichen. Kehren die Schulen zurück in den Präsenz- oder zumindest in den Wechselunterricht, soll es weitere Förderangebote geben, etwa zusätzlichen Ganztagsunterricht und Ferienkurse. Für das zusätzlich nötige Personal soll auch auf Studierende und private Nachhilfelehrer zurückgegriffen werden.

Die Abschlussklassen sollen warten

Bis hierhin decken sich Baerbocks Vorschläge weitgehend mit jenen der Friedrich-Ebert-Stiftung. Doch es gibt zwei Unterschiede. Erstens: Zu den Schülergruppen, die bei der Wiederöffnung der Schulen zuerst an die Reihe kommen sollen, zählen die FES-Experten auch Abschlussklassen. Baerbock tut das nicht. Dass diese im vergangenen Frühjahr als erste wieder in die Schule konnten, sei ein "Fehler" gewesen. Sie plädiert dafür, die Schulen von unten nach oben wieder zu öffnen.

Unterschied zwei: Die FES-Kommission fordert, dass in diesem Schuljahr niemand sitzenbleiben dürfe. Baerbock will sich dem nicht anschließen. Damit löse man das Problem nicht. Soziologe El-Mafaalani warnt umgekehrt davor, dass nicht zu viele Schüler dieses Schuljahr wiederholen dürften. In einem System, das angesichts des Lehrermangels ohnehin "auf der Felge fährt", sei das rein rechnerisch nicht möglich.

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