Schon als kleinem Jungen wurde ihm eine große Karriere vorhergesagt. Ein langjähriger Weggefährte verglich ihn einmal mit einem Cyborg, der von Anfang an darauf programmiert war, an die Macht zu gelangen. Der Weg war gar nicht so weit.
Juan Manuel Santos, 65, wurde praktisch in das Zentrum der Macht von Bogotá hineingeboren. Sein Großonkel Eduardo regierte Kolumbien von 1938 bis 1942, sein Cousin Francisco brachte es immerhin zum Vizepräsidenten. Sein Vater Enrique war 50 Jahre lang der Herausgeber von El Tiempo, der größten Zeitung des Landes. Der traditionsreiche Verlagskonzern ist bis heute im Besitz der Familie. Ein weiterer Cousin ist der Chef des einflussreichen Wochenmagazins Semana. Was in Kolumbien in den vergangenen Jahrzehnten geschrieben und entschieden wurde, das bestimmte zu nicht unerheblichen Teilen der Santos-Clan.
Dem Vernehmen nach stand der junge und streberhafte Juan Manuel nur vor einer kniffligen Frage: Soll er eines Tages El Tiempo übernehmen oder gleich das ganze Land? Nach einem kurzen Ausflug in den Journalismus entschied er sich für die große Lösung.
Der Friedensnobelpreis stärkt Santos nun in einer Phase den Rücken, in der er innenpolitisch massiv unter Druck steht. Ausgerechnet er, der wie kaum ein anderer die kolumbianische Oligarchie verkörpert, sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, er sei ein Linksextremist. Einer, der dem "Castro-Chavismo" Vorschub leiste, der aus Kolumbien ein neues Kuba oder gar ein zweites Venezuela machen wolle, indem er das Land den marxistisch-leninistischen Rebellen von der Farc ausliefere. So in etwa sieht das offenbar ein großer Teil jener 6.431.376 Bürger, die am 2. Oktober "Nein" sagten. Nein zum Friedensvertrag. Nein zu Santos.
Ein Argument der Gegner: die gendergerechte Sprache des Friedensvertrags
Seinem Amtsvorgänger und Erzfeind Álvaro Uribe ist ein populistisches Meisterstück gelungen. Er hat es geschafft, das Referendum über den Frieden auch zu einer Abstimmung über die Regierung Santos umzufunktionieren. Die wird aus allen Teilen der Welt mit Lob überschüttet, zu Hause aber hat sie seit Monaten schlechte Umfragewerte, trotz (oder gerade wegen) der ernsthaften Aussöhnungsversuche mit der Farc-Guerilla. Uribes Kampagne nahm bisweilen bizarre Züge an. Auf der Tatsache, dass in dem knapp 300 Seiten dicken Friedensvertrag etwa von Kämpferinnen und Kämpfern die Rede war, dass - wie man so sagt - durchgegendert wurde, gründete sich der Vorwurf, das Dokument sei Teil eines Angriffs auf das klassische christliche Familienbild. Diese Strategie zog vor allem die Evangelikalen ins Lager der Neinsager, von denen es in Kolumbien Hunderttausende gibt.
Natürlich ist Juan Manuel Santos weit davon entfernt, ein Linker zu sein. Er schrieb zwar ein Buch, das er in Anlehnung an Tony Blair "Den dritten Weg" nannte. Im Gegensatz zum ehemaligen britischen Labour-Chef näherte er sich der Mitte allerdings von rechts an. Santos studierte Wirtschaft und Recht an der Universität von Kansas, der London School of Economics und in Harvard. Seine berufliche Laufbahn begann als internationaler Repräsentant der kolumbianischen Kaffeeproduzenten.
Anfang der Neunziger wechselte er in die Politik. Er war Handelsminister, Finanzminister und Verteidigungsminister, auch da fiel er nicht unbedingt durch eine sozialpolitische Agenda auf. Während seiner Amtszeit als Präsident ab 2010 wuchs die Volkswirtschaft durchschnittlich um fünf Prozent, umverteilt wurde von dem neuen Wohlstand aber wenig. Den Rechten ist er zu links, und den Linken deutlich zu rechts. Man könnte ihn als einen ideologisch flexiblen Konservativen beschreiben.
Die Meinungen gehen auseinander, wann der Präsident Juan Manuel Santos die Liebe zum Frieden für sich entdeckte. Spätestens in seiner zweiten Amtszeit ab 2014 ordnete er diesem Thema alles unter. In seiner ersten Regierungserklärung 2010 hatte er allerdings noch einen Triumph der "Politik der Demokratischen Sicherheit" verkündet. Unter diesem Titel bekämpfte sein einstiger Mentor Uribe die Farc jahrelang bedingungslos. Es war die blutigste Phase des kolumbianischen Bürgerkriegs, in der vor allem die Uribe nahestehenden paramilitärischen Milizen grausame Massaker anrichteten. Auch Teile der nationalen Streitkräfte beteiligten sich an dem Gemetzel.
Die ganze Niederträchtigkeit offenbarte sich im Skandal der sogenannten "Falsos Positivos", der falschen Erfolgsmeldungen. Soldaten ermordeten zwischen 2006 und 2009 systematisch Zivilisten, deren Leichen sie hinterher in Guerillauniformen steckten - für die Erfolgsstatistik im Kampf gegen die Farc und für stattliche Kopfprämien. Santos war in dieser Zeit als Verteidigungsminister für die Armee verantwortlich. Später zeigte er sich reumütig und sprach von Einzelfällen. Es handelte sich allerdings um über 3000 Einzelfälle.
Nicht nur der verstorbene venezolanische Präsident Hugo Chávez beschimpfte seinen kolumbianischen Kollegen damals als Kriegstreiber. In Ecuador wurde Santos wegen mehrfachen Mordes sowie wegen eines Angriffs auf die innere Sicherheit des Nachbarlandes angeklagt. Im März 2008 hatte er als Verteidigungsminister die Bombardierung eines Farc-Lagers auf ecuadorianischem Staatsgebiet angeordnet. Dabei starben 23 Menschen, darunter ein unbeteiligter Ecuadorianer sowie vier mexikanische Studentinnen.
Santos gilt als kalt und distanziert. Es heißt, er sei ein begnadeter Pokerspieler
Auch als sich die Prophezeiungen seiner Kindheit erfüllten und Santos schließlich in den Präsidentschaftspalast Casa de Nariño von Bogotá einzog, deutete zunächst wenig darauf hin, dass ausgerechnet er eines historischen Tages im Herbst 2016 dem Farc-Anführer Rodrigo Londoño eine Anstecknadel in Form einer Friedenstaube überreichen würde. Dessen Vorgänger Alfonso Cano hatte er fünf Jahre zuvor noch von einer Spezialeinheit töten lassen. Es mussten unzählige Faktoren zusammenkommen, damit nach 52 Kriegsjahren ein Verhandlungsfrieden zwischen dem kolumbianischen Staat und den Farc möglich wurde. Der erstaunliche Wandel des Präsidenten Santos vom Falken zur Taube ist gewiss der bedeutendste von allen. Im Umfeld Uribes, zu dem auch sein Cousin Francisco gehört, gilt er seither als Verräter.
Santos wirkt in seinen öffentlichen Auftritten kalt und distanziert, im privaten Umfeld soll er aber zu jenen gehören, die länger sitzen bleiben als andere. Es heißt, er sei ein begnadeter Pokerspieler. Undurchsichtig ist er allemal. Nur eines scheint festzustehen: Das mit dem Frieden meint er ernst. Wieder tritt er wie ein Cyborg auf, der sich von keinem Hindernis von seinem Programm abbringen lässt. Dass sein mühsam ausgehandelter Friedensschluss beim eigenen Volk durchfiel, war gewiss die schwerste Niederlage seine Laufbahn. Viele rechneten mit seinem Rücktritt.
Santos aber wirkte am nächsten Morgen umso entschlossener, diesen Prozess zu einem friedlichen Ende zu bringen. Koste es, was es wolle. Unter der Woche hat er sich sogar mit seinem Gegenspieler Uribe zu Verhandlungen getroffen, nachdem sich die beiden führenden Politiker des Landes zuletzt fünf Jahre lang erfolgreich aus dem Weg gegangen waren. In dem großen Drama um den verschmähten Frieden steckt also auch eine kleine Chance: Es gibt in Kolumbien jetzt wieder Dialoge, die bis vor Kurzem noch undenkbar waren, eine neue Debattenkultur scheint zu entstehen. "Wir müssen die Polarisierung überwinden, die diesem Land so viel Schaden zugefügt hat", sagt Santos. Damit spricht er ausnahmsweise mal der Mehrheit aus dem Herzen.
Der alte Krieger gibt partout nicht auf bei seiner Suche nach Gnade und Versöhnung. In einer Welt, in der es von Kriegern nur so wimmelt, ist er ein Vorbild. Das Nobelkomitee in Oslo hat eine gute Wahl getroffen.