Den nationalsozialistischen Krankenmorden fielen in ganz Europa etwa 300 000 Menschen zum Opfer. Dieser zivilen Toten wird nur wenig gedacht, Deutschland beispielsweise hat erst seit 2014 einen ihnen gewidmeten Gedenk- und Informationsort in der Berliner Tiergartenstraße 4. Dort befand sich früher die "Zentraldienststelle T4", wo die Ermordung der Patienten aus Heil- und Pflegeanstalten im Reich organisiert wurde.
Die verhältnismäßige späte Aufmerksamkeit ist aus mehreren Gründen erstaunlich. Erstens, weil die Tötung von annähernd 70 000 Menschen in der sogenannten Aktion T4 in den sechs deutschen Anstalten Pirna-Sonnenstein, Hartheim, Hadamar, Brandenburg, Grafeneck und Bernburg so viel Aufmerksamkeit nach sich zog, dass es immer wieder zu unbequemen Nachfragen kam - etwa durch die katholische Kirche -, weshalb Hitler sie vorzeitig stoppen ließ; mit größerer Geheimhaltung ging die sogenannte wilde Euthanasie mit mindestens 30 000 Opfern an anderen Orten allerdings weiter. Und zweitens, weil bereits im Nürnberger Prozess davon die Rede war und im sogenannten Nürnberger Ärzteprozess explizit dieser Tatkomplex verhandelt wurde. Ernst Klee hat sich in zahlreichen Publikationen seit den 1980er-Jahren damit umfassend beschäftigt und gilt damit völlig zu Recht als deutscher Pionier bei der Erkundung der Medizinverbrechen.
Morden mit Motorabgasen
Ein dritter Grund ist nicht auf den ersten Blick offensichtlich: Der Zusammenhang von Euthanasie und Holocaust. Hinweise darauf gab es früh, unter anderem schrieb Léon Poliakov in seinem "Bréviaire de la haine" bereits 1951 davon, dass viele Täter der Aktion T4 nach deren Ende nach Ostpolen abgeordnet wurden und dort die Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka betrieben: Die dortige Ermordung mittels Motorabgasen war eine Weiterentwicklung der bloßen Freisetzung von Kohlenmonoxid aus Flaschen, wie sie in den Anstalten praktiziert worden war.
Dieser Nexus war der Forschung grundsätzlich bekannt, doch erst 1995 legte Henry Friedlander die bis heute maßgebliche Studie (Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, deutsch 2001 Heyne) dazu vor, die viele Fragen beantworten konnte. Tatsächlich sind in den zurückliegenden mehr als 25 Jahren aber keine wesentlichen neuen Untersuchungen entstanden, die das nach wie vor disparate Wissen bündeln und den Horizont erweitern. Insbesondere die europäische Dimension der Krankenmorde ist kaum erforscht, obwohl noch vor der Aktion T4, die im Januar 1940 begann, im Herbst 1939 im besetzten Polen erste Krankenhäuser "geleert" wurden. Zudem ließ der pommersche Gauleiter Franz Schwede-Coburg Anstaltsinsassen aus seiner Region ins besetzte Danzig-Westpreußen zur Exekution deportieren, um die Gebäude anderweitig nutzen zu können. Die dabei entwickelten Gewaltpraktiken erwiesen sich als wegweisend: Das war erstens die gezielte Deportation verschiedener Opfergruppen an eine Tötungsstätte. Zweitens mordete nur eine kleine Gruppe eingeschworener Täter, wobei sie auf die erzwungene Unterstützung von Häftlingen zurückgriff, die später im Zuge der Spurenverwischung ermordet wurden. Beides hatte es im Nationalsozialismus zuvor nicht gegeben.
Eine kleine, eingeschworene Gruppe
In Polen sind diese Verbrechen zuletzt im Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig prominent aufgearbeitet worden und führten außerdem zu Kontroversen über die angemessene Berücksichtigung dieser - deutschen - Opfer im nationalen Gedenkkanon, denn diese wurden zugleich mit polnischen Insassen getötet, freilich in einem ethnisch äußerst heterogenen Gebiet, in dem nationale Zuschreibungen oft fluide waren.
Auch diese Aspekte behandeln nun zwei neue Sammelbände, die konsequent nicht-deutsche Forschungen einbeziehen. Sie wurden von der Gedenkstätte Hadamar gemeinsam mit dem Frankfurter Fritz-Bauer-Institut herausgegeben. Hier kooperieren also Euthanasie- und Holocaust-Institute und denken endlich zusammen, was auch zusammengehört: Die Überschneidungen der verschiedenen Tatkomplexe des Zweiten Weltkriegs. Denn selbstverständlich gibt es Verbindungen etwa von den Euthanasie-Erschießungen in Westpolen zu den Morden der Einsatzgruppen im gleichen Gebiet; und von dort zu den ersten Versuchen mit Giftgas, dem Ausgreifen der Krankentötungen im östlichen Europa - im Westen geschah das nur sporadisch und mit deutlich weniger Opfern -, und natürlich den Linien hin zum Holocaust oder den Vorstellungen eines Lebensraums im Osten. Diese Verbindungen, das kann gar nicht genug unterstrichen werden, bestanden zuvorderst in einer gar nicht so großen Kerngruppe von überzeugten Vernichtungsexperten, die sich zahlloser williger Helfer bediente.
Juden waren stets die ersten Opfer
Diese genozidalen Pfade, und auch das arbeiten die beiden unbedingt gemeinsam und ergänzend zu lesenden Bücher heraus, waren keineswegs gradlinig oder gar zwangsläufig. Vielmehr spiegeln sie die erratische nationalsozialistische Mordpolitik in ihren lokalen Dynamiken wider. Ganz offensichtlich ist aber beispielsweise, dass Jüdinnen und Juden unter den Anstaltsinsassen immer unter den ersten Opfern waren und bei ihnen grundsätzlich keine ärztliche Begutachtung stattfand, ob es sich nicht doch um lebenswertes Leben handeln könne. Sogar die menschenverachtende Eugenik galt nur für Angehörige des eigenen "Volkstums", nicht jedoch für den rassischen Feind. Gezielt wurden deshalb in den Konzentrationslagern des Reiches im Rahmen der "Aktion 14f13" mindestens 15 000 deutsch-jüdische Häftlinge zur Tötung ausgesondert, die den Nationalsozialisten als alt, krank oder nicht mehr arbeitsfähig galten.
Der Holocaust sollte deshalb nicht getrennt von den anderen deutschen Tatkomplexen des Zweiten Weltkriegs betrachtet werden. Die beiden Sammelbände zeigen mit ihrem Fokus auf die Euthanasie exemplarisch die Interdependenzen eines einzigen, gigantischen Verbrechens - wobei jeder einzelne Teil natürlich seine Spezifika hat. Deren Zusammenhänge ergeben sich aus der nationalsozialistischen Ideologie: Dort finden sich Dinge wie Antisemitismus, Polenfeindlichkeit oder Überlegungen zum deutschen "Volkskörper" und einem "Volkstumskampf". Sie fügen sich zu einem - natürlich irrationalen und nicht besonders tiefgründigen - Gesamtkonzept zusammen.
Diese ideologischen Ursprünge kommen in den Büchern tendenziell zu kurz, was angesichts der doch großen Forschungslücken, die sie schließen, durchaus zu verkraften ist. Aber wie 2017 die wegweisende Studie von Stefanie Coché (Psychiatrie und Gesellschaft. Psychiatrische Einweisungspraxis im "Dritten Reich", der DDR und der BRD 1941-1963, Vandenhoek und Ruprecht) gezeigt hat, erklären die rassistisch-eugenischen Denkmuster auch viele Kontinuitäten im Umgang mit Psychiatriepatienten in der DDR und der frühen Bundesrepublik. Angesichts der eher geringen personellen Umbrüche und der in den Sammelbänden umfassend beleuchteten, verweigerten juristischen Aufklärung ist das vielleicht keine Überraschung. Aber umso mehr Anlass, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen.
Stephan Lehnstaedt ist Historiker für Holocaust-Studien und Jüdische Studien an der Touro University Berlin.