Der Gottseibeiuns kommt an diesem Donnerstag überpünktlich daher, und er betritt den europafahnengeschmückten Pressesaal des Europaparlaments im dunklen Gewand, mit einem breiten Grinsen im Gesicht und einer Sonnenbrille im blonden Haar. Marine Le Pen, Führerin des französischen Front National, ist es ein formidables Vergnügen, in den übervollen Raum zu schauen, dabei zu verifizieren, wie sich vor ihr Fotografen und Kameramänner recken, und wie ihr erwartungsvolle Blicke entgegengeworfen werden. Die Stimmung im Saal ist in vielerlei Hinsicht spannungsgeladen, und Le Pen versucht, diese Spannung so subtil wie möglich und so ausdrücklich wie nötig zu verstärken. "All die Dämonisierungen durch unsere politischen Gegner und die Medien haben nichts genutzt", sagt sie, an die Journalisten gewandt. Nun wolle sie dafür sorgen, dass es beim "Integrationsprozess der Europäischen Union keine neuen Fortschritte gibt".
Natürlich ist das bloß ein Minimalziel. Ob ihr das gelingt, ist auch eine Frage des Resonanzraums, der ihr im Europaparlament zur Verfügung steht, und dessen Volumen wiederum bemisst sich nicht unwesentlich nach einer anderen Unbekannten: ob sie es schafft, eine ultrarechte Fraktion zu bilden. Der Fraktionsstatus ist deshalb wichtig, weil er mehr Mittel verheißt, konkret: mehr Mitarbeiter, mehr Bürofläche im Parlamentsgebäude, mehr Redezeit im Plenarsaal, mehr Geld für das Verbalgift, das sie versprühen will.
Um eine Fraktion zu bilden, müssen sich im Europaparlament aber mindestens 25 Abgeordnete aus sieben verschiedenen Ländern zusammenfinden. 25 Parlamentarier zu sammeln, ist kein Problem; allein Le Pen bringt nach ihrem Wahlsieg vom Sonntag 24 Abgeordnete ein. Der zweite Teil der Bedingung ist nicht ganz so einfach zu erfüllen. Denn mit der transnationalen Freundschaft ist das unter politischen Kräften, die, um der Verteidigung ihrer jeweiligen Nation halber im Zweifel mit dem Messer zwischen den Zähnen herumlaufen, halt so eine Sache.
Fischen in den gleichen trüben Gewässern
Schon vor den Wahlen hatte sich Le Pens Front National mit der rechtspopulistischen Freiheitspartei des Niederländers Geert Wilders verbündet. Nun sind noch die österreichische FPÖ dazugekommen, ebenso die Separatisten von Vlaams Belang und Lega Nord, denen vorerst egal ist, ob zuerst ihre jeweiligen Herkunftsländer (Belgien und Italien) oder doch die EU zerschlagen wird. Hauptsache, die Personenfreizügigkeit in der EU wird gestoppt. Wer noch dazukommen soll? "Wir wollen keine Fährten legen", gibt sich Le Pen geheimnisvoll. Sie stellt lediglich klar, dass mehr oder minder offen rechtsextreme Parteien wie die ungarische Jobbik, die griechische Goldene Morgenröte oder die deutsche NPD nicht dazugehören werden. Womöglich fürchtet sie, dass solche Partner ihre Strategie durchkreuzen würden, den Front National für breitere Wählerschichten zu öffnen, und dass dies eher den Geist des "alten" Front National wieder heraufbeschwören würde, für den ihr Vater Jean-Marie Le Pen lange stand.
Insbesondere Nigel Farage von der europaskeptischen UK Independence Party (Ukip) fischt in den gleichen trüben Gewässern. Der Brite leitete im alten Europaparlament die EFD-Fraktion ("Europa der Freiheit und der Demokratie"). Er stellt für Gruppierungen, die Le Pen und Wilders gern an ihrem Tisch hätten, aber selbst um ein möglichst ziviles Image ringen, eine attraktivere Option dar. Die Dänische Volkspartei oder die Schwedendemokraten zählen dazu, ebenso die Alternative für Deutschland (AfD), deren Chef Bernd Lucke am Mittwoch ebenfalls durch die Europaparlamentsflure lief, sowie überraschender Weise auch der Italiener Beppe Grillo. Dessen Protestbewegung "5 Stelle" (5 Sterne) hatte man im Zweifel im linksalternativen Lager verortet. Nun konferiert Grillo mit Farage. "Wir sondieren nur", sagt Grillo am Donnerstag, ein weiteres Treffen sei für kommende Woche vereinbart. Farage ist bereits voller Vorfreude: "Zusammen könnten wir uns einen Spaß daraus machen, Brüssel eine Menge Ärger zu bereiten", teilt der Ukip-Mann mit.
Le Pen und Wilders bleibt derweil vor allem der Blick nach Osteuropa. Die Partei Neue Rechte in Polen brachte sich ebenso ins Spiel wie die europaskeptische Partei der freien Bürger (SSO) aus Tschechien. Le Pen sagte, man brauche sich "überhaupt keine Sorgen" zu machen, dass sie die Bedingungen für die Fraktionsbildung bis zur konstituierenden Sitzung des Europaparlaments Anfang Juli erfüllen werden. Jenseits dessen sei eine punktuelle Zusammenarbeit zwischen ihrem Lager und Farage nicht ausgeschlossen. Zwar hat sich Farage von Le Pen abgegrenzt, ihre Partei als trunken und "faschistisch" tituliert - wie das zuletzt auch der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) getan hat. Doch Le Pen ist ganz offenkundig gewillt, Farages Tiraden als Wahlkampfgetöse zu katalogisieren. Also zu vergessen.
"Wir werden bei vielen Dossiers durchaus eine gemeinsame Front bilden können", sagte Le Pen, ehe sie sich nach 41 Minuten im Pressesaal von ihrem Platz erhob. Die Zeit sei um, sagte sie, und schützte Respekt vor Sekundärtugenden vor: "Wir müssen uns an die Regeln des Hauses halten."