Europäische Union:Die wichtigsten Fragen und Antworten zum Brexit

Lesezeit: 6 min

Gibt es eine Einigung zwischen London und Brüssel? Welche Hürden muss Theresa May noch nehmen? Und dürfen EU-Bürger nach dem Austritt noch nach Großbritannien reisen? Ein Überblick.

Von Matthias Kolb, Straßburg, Barbara Galaktionow und Markus C. Schulte von Drach

Gibt es eine Einigung zwischen Großbritannien und der EU?

Nach Monaten intensiver Verhandlungen haben sich das Vereinigte Königreich und die Europäische Union auf einen Vertragsentwurf für den Brexit geeinigt. Dies ist ein wichtiger Zwischenschritt, aber angesichts der innenpolitischen Probleme von Premierministerin Theresa May keineswegs Anlass für Jubel. Obwohl in vielen intensiven Nachtsitzungen auf diesen Durchbruch hingearbeitet wurde, zeigen sich beide Seiten recht verhalten. London versteckte die Nachricht am Dienstagabend in einer Terminankündigung: "Das Kabinett wird sich morgen um zwei Uhr nachmittags treffen, um den Vertragsentwurf zu prüfen, den die Verhandlungsteams in Brüssel ausgearbeitet haben", schrieb Mays Pressebüro.

Von Seiten der EU-Kommission, die für die 27 verbleibenden Mitglieder die Gespräche führt, gab es zunächst kein offizielles Statement. Erst am Mittwoch bestätigte die EU-Kommission, dass man sich auf "die Elemente" eines Abkommens geeinigt habe. Manfred Weber, Fraktionschef der Europäischen Volkspartei im Europaparlament, sprach in den ARD-"Tagesthemen" von einer grundsätzlichen Einigung. "Ja, der weiße Rauch steigt auf." In Brüssel findet am Mittwochnachmittag eine Sondersitzung der Botschafter der EU-27 statt. Mindestens 400 Seiten umfasst der Entwurf des Austrittsabkommens, auf den sich die Experten aus London mit dem Team von EU-Chefunterhändler Michel Barnier geeinigt haben. Das Dokument ist so lang, weil alles völkerrechtlich verbindlich festgelegt werden muss. Ergänzend soll es eine fünfseitige politische Erklärung geben. Diese ist rechtlich nicht bindend, weshalb die 27 EU-Mitglieder hier mehr Möglichkeiten haben, der politisch so bedrängten Theresa May entgegenzukommen. Ein EU-Diplomat formulierte es kürzlich so: "Da lässt sich viel Nettes reinschreiben, denn das kostet ja nichts."

Großbritannien
:London meldet Einigung bei Brexit

Noch an diesem Mittwoch soll das Kabinett über den Vertragstext entscheiden. Die Zustimmung der Minister ist völlig offen.

Von Cathrin Kahlweit

Was passiert heute im britischen Kabinett?

Die Unterhändler der britischen Regierung und der EU mögen sich verständigt haben, doch die vermutlich härteren Verhandlungen stehen Premierministern May noch bevor. An diesem Mittwoch kommt es zunächst darauf an, ob die britische Regierungschefin den Brexit-Deal durch ihr eigenes Kabinett bringt. Ob ihr das gelingt, ist offen. Seit 14 Uhr (15 Uhr MEZ) läuft die von May anberaumte Sondersitzung des Kabinetts. Zuvor konnten die Minister und Ministerinnen den Vertragsentwurf in einem geheimen reading room einsehen. Außerdem wurde eine Reihe von Ressortchefs schon am Dienstagabend zu Einzelgesprächen in die Downing Street 10 gebeten.

Der Druck, der auf den Ministern lastet, ist enorm. Sowohl Brexit-Hardliner als auch konservative "Remainer", also Gegner eines EU-Austritts, appellieren an sie, den Plan abzulehnen. Der britischen BBC zufolge haben einige Kabinettsmitglieder zudem selbst "starke Vorbehalte". Handelsminister Liam Fox und andere Minister wollten sich schon am Morgen treffen, um vor der Sitzung ihre Positionen abzusprechen, berichtet der Guardian. Julian Smith, der als sogenannter Chief Whip der Konservativen Partei im Parlament dafür zuständig ist, Abstimmungsmehrheiten zu organisieren, äußerte sich dennoch zuversichtlich, dass May die Zustimmung ihres Kabinetts erhalten werde.

Günstig für die Premierministerin ist, dass mit Boris Johnson und David Davis zwei Brexit-Hardliner ihre Ministerposten bereits im Sommer hinwarfen, weil ihnen Mays Linie als zu weich erschien. Ob weitere Rücktritte folgen, wird sich möglicherweise heute zeigen.

Was sind die wichtigsten Streitfragen?

Seit Wochen dreht sich alles um die Frage, wie man eine "harte Grenze" auf der irischen Insel vermeidet, um weder die dortige Wirtschaft noch den fragilen Friedensprozess durch Kontrollen und Schlagbäume zu gefährden.

Es geht vor allem um die Zeit ab 2021, wenn die knapp zweijährige Übergangsphase endet, die nach einem Deal und dem offiziellen Ausscheiden Großbritanniens am 29. März 2019 beginnt und in der London in der Zollunion und im Binnenmarkt verbleibt, allerdings seine Stimmrechte verliert. Für den Fall, dass sich Brüssel und London bis Ende 2020 nicht auf einen neuen Handelsvertrag einigen, soll ein "backstop" verhindern, dass sich zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem britischen Nordirland viel ändert. Die Möglichkeit eines "backstop" sehen viele Brexiteers als Angriff auf die Einheit des Vereinigten Königreichs - während Theresa May stets betont, dass diese Rückfalloption nie nötig sein werde.

Der neue Vorschlag sieht nun vor, dass ein möglicher "backstop" fürs gesamte Vereinigte Königreich gelten soll. Mitte 2020 sollen Brüssel und London gemeinsam eine von drei Optionen wählen. Szenario 1 wäre ein für alle Seiten akzeptabler Handelsvertrag oder eine Lösung für Nordirland, die vor allem von Irland unterstützt wird. Dies ist die Argumentation von May, die einen "backstop" unnötig machen würde.

Szenario 2 wäre eine Verlängerung der Übergangsphase bis ins Jahr 2021 hinein - rechtlich bliebe alles beim Alten, aber London müsste analog zu den Mitgliedsbeiträgen viele Milliarden bezahlen. Als drittes Szenario wird eine Zollunion zwischen Großbritannien und der EU genannt, während Nordirland noch enger angebunden wird. Hier steckt der Teufel im Detail: Die EU beharrt darauf, dass London in diesem Falle alle Standards einhält, um keine Wettbewerbsvorteile zu haben.

Sollte May die Zustimmung ihres Kabinetts erhalten, würde Michel Barnier EU-Ratspräsident Donald Tusk wohl bestätigen, dass "entscheidende Fortschritte" erzielt wurden. Dann könnte Tusk einen Brexit-Sondergipfel einberufen, voraussichtlich für Sonntag, den 25. November. Wenn die EU-27 dann zustimmen, schauen alle wieder auf London und das Unterhaus. Dort könnte Mitte Dezember eine Abstimmung angesetzt werden, kurz vor dem regulären EU-Gipfel Mitte des Monats.

Hinzu kommt: Nicht nur im britischen, sondern auch im Europäischen Parlament muss der Austrittsvertrag eine Mehrheit finden. Die Beratungen dort würden direkt nach dem "Okay" der EU-27 beginnen; federführend ist der Auswärtige Ausschuss mit dem designierten Berichterstatter Guy Verhofstadt. Als Termin für eine Abstimmung im Plenum nennt der CDU-Abgeordnete Elmar Brok den Februar, da andere Fachausschüsse angehört werden müssen und das Verfahren ordnungsgemäß ablaufen soll. Besonders wichtig ist dem Europaparlament laut Brexit-Sherpa Brok neben einer für die Regierung in Dublin akzeptablen Lösung für die Grenze zwischen Irland und der britischen Provinz Nordirland, dass die Rechte von EU-Bürgern garantiert werden, die schon vor dem Referendum 2016 jenseits des Ärmelkanals lebten.

Bis ein "geordneter" Brexit feststeht, werden sich die EU-Kommission sowie Großbritannien und die Staaten der EU-27 auf ein "No-Deal"-Szenario vorbereiten. Mit Druck auf London oder Bedrohungsszenarien habe das nichts zu tun, betont ein EU-Diplomat: "Das ist verantwortungsvolles Regierungshandeln, für alles gerüstet zu sein."

Was passiert, wenn EU und Großbritannien sich doch nicht einig werden?

In all dem chaotischen Hin und Her der Brexit-Verhandlungen stand eines von Beginn an fest: Am 29. März 2019 verlässt das Vereinigte Königreich die Europäische Union. Sollte es unmöglich sein, diese Trennung geordnet zu organisieren, dann gäbe es keine 21 Monate lange Übergangsphase mit weiteren Verhandlungen, sondern ein böses Erwachen. Es käme zu einem "hard Brexit" und Großbritannien müsste als Drittstaat behandelt werden - inklusive Grenzkontrollen und Zöllen.

Die EU-Kommission treibt die Planungen für eine solche No-Deal-Variante voran und wird in der kommenden Woche entsprechende Seminare für die Mitgliedsstaaten organisieren. Am Dienstag veröffentlichte sie einige Dokumente mit zahlreichen Details. So soll sichergestellt werden, dass etwa Flugzeuge auch vom 30. März 2019 an ohne größere Probleme von Großbritannien in die EU (und wieder zurück) fliegen können.

Theoretisch sind im Falle einer Ablehnung des sich nun abzeichnenden Vorschlags auch andere Varianten denkbar: Großbritannien könnte eine Verlängerung der zweijährigen Verhandlungsphase über den 29. März 2019 hinaus beantragen - allerdings wären dann nur wenige Wochen gewonnen, denn als Irgendwie-noch-Mitglied müsste London dann an der Europawahl teilnehmen, die zwischen dem 23. und 26. Mai stattfindet. Dies ist jedoch undenkbar. Und natürlich ist offen, ob einzelne EU-Staaten oder Wirtschaftsverbände kurz vor einem No-Deal alles daran setzen und Vorschläge präsentieren, um diesen schlimmsten aller Fälle zu verhindern.

Können EU-Bürger nach dem Brexit noch in Großbritannien Urlaub machen oder arbeiten?

Die Details sind noch nicht geklärt, aber es gibt Hoffnung, dass das nicht allzu schwierig wird. Zum Thema Reisen hat die Europäische Kommission einen Plan verabschiedet, dem die britische Regierung allerdings noch zustimmen muss. Sobald die EU-Gesetze im Vereinigten Königreich nicht mehr gelten, sollen Briten demnach zunächst für 90 Tage ohne Visum in die EU einreisen dürfen. Aber nur, wenn London das Gleiche den EU-Bürgern zugesteht. Mitzunehmen wäre dann der Reisepass oder Personalausweis. Diese Regelung würde der des Schengen-Abkommens entsprechen. Das Prozedere wäre in etwa so wie derzeit zwischen der EU und der Schweiz. Führen die Brexit-Verhandlungen zu keinem Austrittsvertrag, soll die Regelung ab dem Tag des Austritts, dem 29. März 2019, gelten. Im Falle eines Vertragsabschlusses dagegen sollte die Visafreiheit nach einer Übergangsfrist beginnen, die mit dem Jahr 2020 endet. Regelungen für längere Aufenthalte müssen im kommenden Jahr gefunden werden.

Wer in Großbritannien studieren oder arbeiten will, wird in Zukunft als EU-Bürger genauso behandelt wie Arbeitsmigranten aus anderen Teilen der Welt. Das heißt, es wird ein Visum notwendig. Ob die Bewerbung um ein solches Dokument Erfolg hat, hängt von verschiedenen Bedingungen ab: Qualifikation, Kompetenzen, Englischkenntnisse und Höhe des Einkommens in Großbritannien. Für Arbeiten im Niedriglohnsektor werden auch EU-Bürger auf den Inseln keine Aufenthaltserlaubnis mehr bekommen

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