EU-Reformen: Merkel ist Europa eine Rede schuldig

EU-Reformen: Ein Interview allein wird nicht reichen, um Frankreich und den Rest der Welt davon zu überzeugen, dass Merkel Europa wirklich erneuern möchte (Archivbild).

Ein Interview allein wird nicht reichen, um Frankreich und den Rest der Welt davon zu überzeugen, dass Merkel Europa wirklich erneuern möchte (Archivbild).

(Foto: Thierry Roge/AFP)

Lediglich in einem Interview antwortet die Kanzlerin auf Macrons Visionen für die Erneuerung der EU. Das ist zu wenig. So können beide zusammen nicht das Gefühl vermitteln, dass es ihnen ernst ist mit dem Neuanfang.

Kommentar von Daniel Brössler, Brüssel

Gut acht Monate sind vergangen, seit der französische Präsident Emmanuel Macron an der Sorbonne seine Rede zur Neugründung des "europäischen Vorhabens" gehalten hat. Es war dies eine Zeit zunächst verständnisvollen, dann taktvoll geduldigen und zuletzt verärgerten Wartens auf die Antwort der Kanzlerin. Nicht nur Macron, ganz Europa war nach der langen Phase der Regierungsbildung gespannt auf die Replik von Angela Merkel, auf jene große Rede, in der sie ihr Bild von der Zukunft der Europäischen Union entwerfen würde. Gelegenheiten hätte es gegeben. Merkel hätte die Abgeordneten im Bundestag mit einer leidenschaftlichen Ansprache verblüffen oder, besser noch, die Verleihung des Karlspreises an Macron dafür nutzen können. Merkel aber entschied sich für das aus ihrer Sicht naheliegende: keine Rede.

Es ist durchaus keine Nebensächlichkeit, dass die Kanzlerin ihre Antwort auf die Vorschläge Macrons in einem Interview unterbreitet hat. Die Form diktiert zwar nicht unbedingt den Inhalt, wohl aber, wie der Inhalt ankommt. Es ist ein langes Interview, in dem Merkel endlich auf etliche Fragen antwortet. In einer ganzen Reihe von zum Teil auch grundsätzlichen Punkten bezieht sie Position. Dennoch entsteht der Eindruck, dass Merkel die Schicksalsfragen des Kontinents weniger angehen als abarbeiten will. So wirkt sie wie die oberste Sachbearbeiterin, die sich im europäischen Treppenhaus langsam emporquält. Auf dem Dach steht derweil ein kühner Visionär und blickt in die Ferne. Das ist Macron.

Gemessen an den großen Worten, die Macron gewählt hat, mutet Merkels Entwurf tatsächlich zunächst eher kleinteilig an. Sie proklamiert keine Neugründung, entwickelt keine ambitionierten Begriffe wie den der europäischen Souveränität. In der Sache aber geht sie durchaus auf Macrons Vorschläge ein. Sie öffnet sich seiner Idee einer europäischen Interventionsinitiative, die die EU-Staaten in die Lage versetzen soll, schnell militärisch einzugreifen. Mit dem Angebot eines Spezialhaushaltes für Investitionen in der Euro-Zone im unteren zweistelligen Milliardenbereich bleibt sie zwar hinter den Ambitionen Macrons zurück, füllt aber den proeuropäischen Koalitionsvertrag langsam mit Leben. Das gilt auch für den Plan eines Europäischen Währungsfonds, der bei Bedarf mit kurzfristigen Krediten hilft.

Das alles ist weit entfernt von Macrons Überzeugung, dass ohne ein ernsthaftes Maß an Umverteilung wirtschaftliches Gleichgewicht in Europa nicht herzustellen sein wird. Den von Macron gewünschten neuen Strukturen für stärkeren Zusammenhalt in der Euro-Zone nähert sich die Kanzlerin nur zaghaft. Und auch ihre Vorstellungen von einer stärkeren militärischen Rolle der Europäer klingen in Frankreich weit weniger ambitioniert als in Deutschland. Wirklich weit geht Merkel bezeichnenderweise nur im Bereich des Grenzschutzes und beim Thema Flüchtlinge. Angesichts etlicher Länder, die am liebsten gar kein Asyl mehr gewähren wollen, ist das Vorhaben einer europäischen Asylbehörde so weit weg von der Realität, dass es gefahrlos vorgebracht werden kann. Insgesamt aber lotet Merkel den Raum für Entscheidungen aus, die in ihrer eigenen Partei, im eigenen Land und letztlich der ganzen EU gerade noch durchsetzbar wären, aber eben auch zum Kompromiss taugen zwischen Deutschland und Frankreich.

In der Nachkriegsgeschichte sind Kanzler und Präsidenten fast immer zur Einsicht gelangt, dass es den eigenen Interessen am allerwenigsten dient, wenn ihre Länder gegeneinander arbeiten. Das galt trotz häufig abweichender strategischer Ziele. Über Jahrzehnte führte für Frankreich der Weg zu mehr eigener Geltung in der Welt über die Stärkung Europas, während es Deutschland um die Rückversicherung seiner Verankerung im Westen ging. Heute gibt es solche Abweichungen in viel geringerem Maße. Deutschland und Frankreich müssen zusammenstehen gegen den lustvollen Zerstörer Donald Trump ebenso wie gegen die Feinde der liberalen Ordnung im Inneren von Polen über Ungarn bis Italien. Schwäche hat die EU früher gelähmt, heute würde sie an ihr kaputtgehen. Die Frage ist also nicht, ob Merkel und Macron einen Kompromiss finden. Sie werden, weil sie müssen.

Emmanuel Macron wird also runterkommen von seinem Dach, und Angela Merkel wird noch ein paar Stiegen klettern. Dort, wo es eben möglich ist, werden sie sich treffen und einigen. Nicht auf den großen Wurf, denn wahrscheinlich gibt es den gar nicht, sondern auf das, was machbar ist. Die Kunst wird dann darin bestehen, den Menschen in Europa dennoch nicht das Gefühl zu geben, dass sie mit dem kleinsten Nenner zweier sehr unterschiedlicher Politiker abgespeist werden. Merkel und Macron müssen das Gefühl vermitteln, dass dies ein neuer Anfang ist, an den sie glauben. Dafür reicht ein Interview nicht. Der Präsident hat bereits gesprochen. Die Kanzlerin ist ihre Rede immer noch schuldig.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: