Zwei Drittel der Mitglieder der evangelischen Kirche und drei Viertel der Katholiken haben schon einmal über einen Kirchenaustritt nachgedacht: Das ist nur eines der negativen Ergebnisse der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). "Dass die Zahlen zurückgehen, ist eine Tatsache, die keiner schönreden kann und will", sagte die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus bei der Vorstellung der Studie während der Synodentagung am Dienstag in Ulm. "Dass sich kirchliche Organisationen in der Krise befinden, wussten wir vorher schon", sagt Friederike Erichsen-Wendt, wissenschaftliche Referentin bei der EKD, "aber jetzt haben wir Ergebnisse, mit denen wir arbeiten können." Und die sind deutlich.
Mehr als zwei Drittel der Katholiken geben an, sich der Kirche heute weniger verbunden zu fühlen als früher, bei den evangelischen Befragten war es ein Drittel. Während die Protestanten vor allem aus der Kirche austreten wollen, weil ihnen die Kirche gleichgültig geworden ist, spielt bei den Katholiken Wut eine größere Rolle. Die Studie nennt als Gründe dafür zum Beispiel Ärger über die Ungleichbehandlung von Frauen, hierarchische und undemokratische Strukturen, Unglaubwürdigkeit und kirchliche Skandale. Besonders die katholische Kirche erleidet einen Vertrauensverlust, selbst Katholiken vertrauen der evangelischen Kirche mehr als ihrer eigenen. "Wir haben noch keinen glaubwürdigen Weg gefunden, mit unserer Schuld, aber auch der Heilung und Versöhnung umzugehen", sagte der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf am Dienstag nach der Vorstellung der Studie.
Die große Mehrheit der Befragten sieht einen Reformbedarf
Seit 1972 organisiert die EKD alle zehn Jahre die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung. Für die aktuelle Ausgabe wirkte erstmals die katholische Kirche mit, auch zum ersten Mal sind die Ergebnisse repräsentativ für die gesamte Bevölkerung.
Die große Mehrheit der Befragten sieht Reformbedarf bei den Kirchen: 80 Prozent der evangelischen und 96 Prozent der katholischen Kirchenmitglieder sind der Meinung, dass sich die eigene Kirche grundlegend verändern müsse, um eine Zukunft zu haben. 95 Prozent der Katholiken befürworten, dass die katholische Kirche die Heirat von Priestern zulassen sollte, mehr als 80 Prozent der katholischen und evangelischen Kirchenmitglieder finden, die Kirchen sollten homosexuelle Partnerschaften segnen.
Die Studie zeigt, dass nicht nur die Kirchenbindung, sondern auch die Bedeutung von Religion zurückgeht. Mehr als die Hälfte der Befragten geben an, Religiosität spiele in ihrem Leben keine Rolle. Der Anteil derer, denen eine kirchliche Religiosität wichtig ist, ist in den vergangenen Jahren auf 13 Prozent gesunken. Nur sechs Prozent der Befragten neigen Religiositätsformen zu, die nichts mit der Kirche zu tun haben. Das widerspreche der verbreiteten Annahme, sagt EKD-Referentin Erichsen-Wendt, dass es viele Leute gebe, die mit der Institution Kirche nichts anfangen könnten, aber ihre Religiosität in anderen, zum Beispiel esoterischen Zusammenhangen ausübten. "Wer religiös ist, ist das in der Regel im Kontext von Kirche." Aber es sind eben immer weniger.
"Die gesellschaftliche Reichweite kirchlicher Organisationen ist immer noch hoch."
So betet der Studie zufolge fast die Hälfte der Bevölkerung nie, nur neun Prozent lesen mehrmals im Jahr in der Bibel. Auch die Zahl der Deutschen, die häufiger als ein Mal pro Jahr einen Gottesdienst besuchen, ist zurückgegangen. Vor 20 Jahren waren es noch knapp 40 Prozent, inzwischen sind es nur noch 25 Prozent.
Wobei all das nicht bedeutet, dass die Menschen nichts von den Kirchen erwarten würden. Die meisten der evangelischen und katholischen Kirchenmitglieder sind dafür, dass die Kirche sich nicht nur auf religiöse Fragen beschränken sollte, selbst 41 Prozent der Konfessionslosen teilen diese Meinung. Eine Mehrheit aller Befragten befürwortet, dass Kirchen Beratungsstellen unterhalten und sich für Geflüchtete einsetzen sollten. Immerhin mehr als 40 Prozent der Konfessionslosen finden, dass Kirchen auch Kindergärten unterhalten sollten. "Die gesellschaftliche Reichweite kirchlicher Organisationen ist immer noch hoch", sagt Friederike Erichsen-Wendt, "und damit gehen hohe Erwartungen einher." Die Herausforderung sei es, diesen Erwartungen trotz zurückgehender Kirchenbindung gerecht zu werden.
Einen möglichen Ansatz sieht sie darin, sich verstärkt auf die jüngste Generation zu konzentrieren. Denn immerhin habe die Studie gezeigt, dass kirchliche Sozialisation eine höhere Bindungskraft habe als bisher vermutet. "Da gehört unser ganz besonderes Augenmerk hin", sagte auch EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus am Dienstag.