Ecuador:Ein Land am Abgrund

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Minuten vor dem tödlichen Attentat auf ihn schwenkte der ecuadorianische Präsidentschaftskandidat Fernando Villavicencio die Flagge seines Landes. (Foto: AP)

Nur wenige Tage vor den Präsidentschaftswahlen wird ein Kandidat auf offener Straße ermordet. Ecuador versinkt in einer Spirale aus Verbrechen und Gewalt.

Von Christoph Gurk, Buenos Aires

Ecuadors Regierung hat den Ausnahmezustand verhängt, nachdem am Mittwoch ein Anwärter für die in wenigen Tagen bevorstehende Präsidentenwahl ermordet worden war. Der Kandidat, Fernando Villavicencio, war bekannt als Kritiker von Korruption und den Verflechtungen von Teilen der ecuadorianischen Politik mit dem organisierten Verbrechen. Am frühen Mittwochabend war er nach einer Wahlkampfveranstaltung in Quito auf dem Weg zu seinem Wagen, als plötzlich Schüsse fielen. Villavicencio soll direkt in den Kopf getroffen worden sein. Mehrere weitere Personen wurden verletzt, darunter auch der mutmaßliche Schütze. Er starb wenig später in Polizeigewahrsam.

Er sei "bestürzt und schockiert", schrieb Staatschef Guillermo Lasso am Mittwochabend kurz nach Bekanntwerden des Anschlags im Netz. Er habe die US-Bundespolizei FBI um Unterstützung bei den Ermittlungen gebeten. "Das FBI hat unserem Wunsch entsprochen und in den nächsten Stunden wird eine Delegation im Land eintreffen", ergänzte Lasso später.

Sechs Tatverdächtige wurden bereits festgenommen. Die Männer kämen aus dem Bereich der organisierten Kriminalität, sagte Innenminister Juan Zapata. Es seien Pistolen, Granaten, ein Gewehr und eine Maschinenpistole sichergestellt worden. Zapata sprach von einem "politischen Verbrechen mit terroristischen Zügen" und einem "Versuch, die kommenden Wahlen zu sabotieren". Die Verdächtigen sollen aus dem Nachbarland Kolumbien kommen.

Am Tatort selbst wandte sich ein Onkel des Opfers an die Presse: "Wir leben wie in einem Horrorfilm", sagte er. Der Mord an dem Kandidaten hat Ecuador zutiefst erschüttert, auch weil er eine weitere Eskalationsstufe ist im Chaos und der Gewalt, in denen das Land seit einigen Jahren versinkt.

Quito
:Präsidentschaftskandidat in Ecuador erschossen

Nach einer Wahlkampfveranstaltung eröffnen Unbekannte das Feuer auf Fernando Villavicencio. Mehrere Menschen werden verletzt. Präsident Lasso verhängt einen 60-tägigen Ausnahmezustand.

Mit Erdöl schaffte Ecuador zeitweise ein Wirtschaftswunder

Der südamerikanische Staat liegt an der Pazifikküste, zwischen den Anden und dem Amazonasregenwald. Befeuert von Einnahmen aus dem Verkauf von Erdöl erlebte Ecuador von der Mitte der Nullerjahre an einen Wirtschaftsboom. Millionen Menschen schafften es damals, der Armut zu entrinnen. Mittlerweile aber ist der ökonomische Aufstieg ins Stocken geraten, immer wieder kommt es zu teils schweren Protesten. Zudem haben in den vergangenen Jahren Drogenbanden Ecuador als Transitland entdeckt. Aus Kolumbien und Peru wird Kokain über die Grenze geschmuggelt und dann in die Vereinigten Staaten und nach Europa weiterverschickt.

War Ecuador lange höchstens ein Randgebiet des weltweiten Drogenhandels, ist das Land nun zu einem bedeutenden Drehpunkt des Rauschgiftschmuggels geworden. Das hat Folgen: Drogenbanden kämpfen um die Kontrolle der lukrativen Routen im Land. Mexikanische und kolumbianische Kartelle haben sich mit ecuadorianischen Gangs verbündet. Auch die albanische und die italienische Mafia sollen dort aktiv sein. Schon seit Jahren kommt es deswegen vor allem in Gefängnissen zu schweren Auseinandersetzungen zwischen den Gruppen: Hier treffen sie auf engstem Raum aufeinander, Zellen, Gänge und Höfe sind wegen der Kriminalitätswelle mittlerweile heillos überfüllt. Immer wieder brechen Kämpfe aus, es kommt zu teils bestialischen Massakern mit Dutzenden Opfern.

Immer wieder geraten Unschuldige und Kinder ins Kreuzfeuer

Längst trifft die Gewalt aber auch den Alltag und das Leben der meisten Menschen im Land. Die Mordrate ist in den vergangenen Jahren explodiert, immer wieder geraten Unschuldige und Kinder bei Schießereien ins Kreuzfeuer. Es gibt Bombenanschläge und Attentate auf Politiker. Erst vor ein paar Wochen wurde der Bürgermeister einer Hafenstadt an der Pazifikküste ermordet. Nun also noch der Anschlag auf den Präsidentschaftskandidaten Fernando Villavicencio.

Der 59-Jährige stammte aus einer ecuadorianischen Andenregion. Nach einem Journalistikstudium war er in den 90er-Jahren in der Gewerkschaft der staatlichen Ölgesellschaft Petroecuador aktiv. Später prangerte er als Journalist schmutzige Geschäfte bei Staats- und Großkonzernen an und schrieb über Korruption und Vetternwirtschaft. Immer wieder erhielt er auch in dieser Zeit schon Morddrohungen.

2017 wechselte Villavicencio in die Politik. Er bewarb sich 2021 erfolgreich für einen Sitz in der Nationalversammlung, und im Mai dieses Jahres gab er seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen bekannt.

"Ecuador ist ein gescheiterter Staat"

Fernando Villavicencio war einer von insgesamt acht Kandidaten, die bei der Abstimmung am 20. August antreten wollten. Kernziel seiner Politik war der Kampf gegen Korruption und den Vormarsch des organisierten Verbrechens. In Umfragen bewegte Villavicencio sich im Mittelfeld.

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Immer wieder hatte Fernando Villavicencio in den vergangenen Wochen über Drohungen berichtet, die er und seine Mitarbeiter erhalten hätten. Noch ist unklar, wieso Polizei und Sicherheitskräfte den Attentäter am Mittwoch nicht stoppen konnten. Politiker aus allen Parteien zeigten sich schockiert über den Mord. "Mein Mitgefühl gilt seiner Familie und allen Familien der Opfer von Gewalt", erklärte Rafael Correa, Ecuadors Ex-Präsident und einst einer von Villavicencios größten politischen Widersachern. "Ecuador ist ein gescheiterter Staat geworden."

Präsident Guillermo Lasso verhängte neben dem Ausnahmezustand auch eine dreitägige Staatstrauer. Die Wahlen am 20. August sollen dennoch wie geplant stattfinden.

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