Das Politische Buch:Deutschlandtag

Lesezeit: 2 min

Nach dem Mauerfall am 9. November wird ein provisorisches Erinnerungsschild am einstigen "antifaschistischen Schutzwall" angebracht. (Foto: Regina Schmeken)

Der Historiker Wolfgang Niess hat dem 9. November in der jüngeren Geschichte nachgespürt. Von "Schicksalstag" will er eigentlich nicht reden, aber einen Gedenktag wäre er allemal wert.

Von Cord Aschenbrenner

Schicksalstag - das Wort lässt manche vielleicht an Sissi und die "Schicksalsjahre einer Kaiserin" denken, für andere klingt es eher nach raunender Geschichtsbetrachtung, wenn nicht sogar -mystifizierung. Mittlerweile ist der Begriff jedoch kaum noch zu trennen vom 9. November, jenem Datum in der jüngeren deutschen Geschichte, auf das - scheinbar rational kaum zu erklären - immer wieder historische Ereignisse fallen: die Revolution 1918, die das brüchige Kaiserreich hinwegfegte; der "Hitlerputsch" 1923 in München; die Pogromnacht 1938; schließlich der Fall der Berliner Mauer 1989.

Der Historiker und Journalist Wolfgang Niess macht gleich zu Beginn seines Buches deutlich, dass er dem Begriff "Schicksalstag" skeptisch gegenübersteht - eben weil er geheimnisvoll wirkende "Mächte im Hintergrund" suggeriere. Den Verlag hat das nicht gehindert, das Wort im Untertitel zu verwenden, und man wird dem Schicksalstag in diesem Zusammenhang ohnehin nicht mehr entkommen; die SZ etwa hat ihn bereits 1946 benutzt. Niess gibt sich in seinem Buch jedoch alle Mühe, dem 9. November das Schicksalhafte zu nehmen und zu erklären, warum so unterschiedliche historische Szenarien immer wieder am oder um den 9. November kulminierten.

Eine Revolution ist nicht an einem Tag erledigt

Niess merkt an, dass das Gedenkdatum 9. November eine "gewisse Unschärfe" aufweise. Natürlich: Eine Revolution ist nicht an einem Tag erledigt (wohl aber die Ausrufung der Republik am 9. November), und auch Hitlers Putschversuch, die Pogromnacht und die Öffnung der Mauer fanden nicht exakt nur jeweils an einem Tag statt, sondern setzten am 9. November ein oder endeten wie Hitlers Umsturzversuch an diesem Tag. Ein weiteres Datum kommt hinzu, das bis vor einiger Zeit nicht allzu geläufig war - das Attentat des schwäbischen Schreiners Georg Elser auf Hitler schlug am 8. November 1939 in München fehl.

An ihm lässt sich verdeutlichen, dass die ersten vier der fünf Novemberdaten einander bedingen. Denn die Abende des 8. November dienten dem "Führer und Reichskanzler" dazu, im Münchner Bürgerbräukeller pompös der "Märtyrer" von 1923 zu gedenken. Der Putsch wiederum hätte nicht stattgefunden, wären nicht fünf Jahre nach der erfolgreichen Revolution von 1918 bayerische Demokratiefeinde und Nationalisten zu einem Monarchiegedenken im Bürgerbräu zusammengekommen. Dies nutzte Hitler, um gleich die "nationale Revolution" auszurufen.

So war Hitler auch am 8. und 9. November 1938 in München gewesen, wo er Goebbels freie Hand für die Pogrome gegen die längst entrechteten deutschen Juden gab, vorgeblich als Vergeltung für den Mord an dem Diplomaten Ernst vom Rath durch einen jungen polnischen Juden. Im Jahr darauf, als Georg Elsers selbstgebaute Bombe im Bürgerbräukeller explodierte, hatte Hitler wenige Minuten zuvor das Lokal verlassen.

Lange wurden die Ereignisse von 1918 kleingeredet

Wolfgang Niess widmet jedem dieser Novembertage sowie dem Mauerfall und dessen Vorgeschichte ein profundes Kapitel. Er blickt auf den unterschiedlichen Umgang der Bundesrepublik und der DDR mit dem schwierigen Datum, das in der DDR fast ausschließlich als das der Revolution von 1918 begangen wurde, als deren erfolgreiche Erbin sich die DDR stilisierte. Anders in der Bundesrepublik: Hier wurde die Bedeutung der Novemberrevolution lange ignoriert oder von konservativen Historikern kleingeredet, wiederentdeckt in ihrer Bedeutung für die deutsche Demokratie wurde sie erst im aufgeheizten Klima des Jahres 1968. Des Pogroms von 1938 hingegen gedachte man in Westdeutschland seit 1958 regelmäßig und mit wachsender Resonanz.

Wolfgang Niess' kluges, lesenswertes Buch wäre unvollständig ohne die Frage, ob nicht der "Schicksalstag" 9. November wegen seiner historischen Dimension, seiner demokratiegeschichtlichen Bedeutung der deutsche Nationalfeiertag schlechthin wäre - viel besser auch als das nichtssagende "Verwaltungsdatum" (Joschka Fischer) 3. Oktober. Geplant ist das nicht, Niess plädiert daher für einen "Nationalen Gedenktag". Es wäre das Mindeste.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: